Rezension über:

Rainer Karlsch / Raymond G. Stokes: Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859-1974, München: C.H.Beck 2003, 460 S., ISBN 978-3-406-50276-7, EUR 34,90
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Rezension von:
Uwe Fraunholz
Institut für Geschichte der Technik und der Technikwissenschaften, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Fraunholz: Rezension von: Rainer Karlsch / Raymond G. Stokes: Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859-1974, München: C.H.Beck 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/05/3969.html


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Rainer Karlsch / Raymond G. Stokes: Faktor Öl

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In dem vorliegenden, von der RWE Dea AG finanzierten Überblickswerk zur Mineralölwirtschaft in Deutschland spannen Rainer Karlsch und Raymond Stokes einen weiten Bogen von den Anfängen der Industrie bis zur ersten Ölkrise 1973/74. Den Autoren, durch zahlreiche Publikationen ausgewiesene Fachleute zur neueren Industriegeschichte Deutschlands, gelingt es dabei, in elf der Chronologie folgenden Kapiteln auf eindrucksvolle Weise die Relevanz dieses Industriezweiges für die politische Geschichte und die wirtschaftliche Entwicklung plausibel zu machen. Ausführliche Personen-, Sach- und Firmenregister erschließen die Studie mustergültig; zwei mit Schwarz-Weiß-Fotografien ausgestattete Bildteile illustrieren sie. Jedes Kapitel endet mit einer prägnanten Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungslinien.

Im ersten Teil des Buches (1859-1945, 15-244) schildert Rainer Karlsch, wie Mineralölprodukte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer bedeutender wurden, um schließlich im 20. Jahrhundert den Verlauf von zwei Weltkriegen zumindest mitzubestimmen. Zunächst standen mit Petroleum und Schmieröl hoch siedende Fraktionen des Erdöls im Zentrum des Interesses. Das "Licht des kleinen Mannes" entwickelte sich zum Massenkonsumgut und ermöglichte die Ausdehnung von Maschinenlaufzeiten. Seit 1879 galt der Petroleumzoll als eine der wichtigsten staatlichen Einnahmequellen. Das heimische Erdöl, Hauptfördergebiete waren das Elsass, die Lüneburger Heide und Norddeutschland, eignete sich aufgrund seiner Qualität vor allem zur Herstellung von Schmierölen, die vom Maschinenbau und den Eisenbahnen verstärkt nachgefragt wurden.

Von Beginn an wurde der deutsche Markt von ausländischen Konzernen beherrscht, die sich auf den Import konzentrierten. 1910 überstiegen die Einfuhren die heimische Produktion um das Zehnfache. Zwar gelang es Royal Dutch Shell und der Anglo-Iranian Oil Company, auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen, doch beherrschte die Standard Oil Company über ihre Tochter, die Deutsch-Amerikanische Petroleum Gesellschaft in den 1890er-Jahren etwa 80 Prozent des deutschen Petroleummarktes. Der Staat reagierte mit einer gezielten Einkaufspolitik und versuchte, den Bahnbedarf durch russisches Erdöl zu decken. Dies konnte die Abhängigkeit von amerikanischen Importen aber allenfalls mildern. Daneben galt heimischen Firmen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mittels Zöllen, Subventionen und Festpreisgarantien besonderes staatliches Augenmerk. Die deutschen Großbanken investierten vor allem in Rumänien und zielten mit dem Bagdadbahn-Projekt auf die wirtschaftliche Durchdringung des Balkans ebenso ab, wie auf die reichen Ölquellen Vorderasiens.

Versprach die steigende Benzinnachfrage erst mit wachsendem Motorisierungsgrad in den 1920er-Jahren überdurchschnittliche Gewinne, so wurde die militärische Bedeutung von Mineralölprodukten bereits im Ersten Weltkrieg deutlich. 1916 hatte die Kriegsrohstoff-Abteilung mit einer ernsten Treibstoffkrise zu kämpfen. Ein Jahr später zerstörten alliierte Truppen systematisch galizische Fördereinrichtungen, die den Verbrauch der Mittelmächte bis dahin weitgehend deckten. Der "deutsche Sonderweg in der Mineralölwirtschaft" (244) hat in diesem Dilemma seine Wurzeln: Fortschritte in der Verschwelung und Hydrierung - Verfahren, mit denen die heimische Kohle in flüssigen Treibstoff umgewandelt wurde - bedienten fortan die Autarkie-Phantasien. Gleichwohl wäre das seit 1927 produzierte Leuna-Benzin ohne staatliche Garantiepreise nie konkurrenzfähig gewesen.

Neben der Förderung der Hydrierverfahren versuchten die Nationalsozialisten, mittels eines "Reichsbohrprogramms" die deutschen Treibstoffreserven zu vermehren, erhöhten aber durch die Steuerfreiheit für neu zugelassene Kraftfahrzeuge den privaten Treibstoffverbrauch. Fast ein Viertel der Investitionen im Vier-Jahres-Plan entfiel auf das Mineralölprogramm. Trotzdem wurden synthetische Treibstoffe nur als vorübergehende Entlastung gesehen, die Eroberung von Ölquellen war das eigentliche Ziel. Im Zweiten Weltkrieg sollte die Kontinentale Öl AG alle Ölquellen des Kontinents bündeln; ihre Tochterunternehmen beuteten vor allem Ölfelder im Baltikum und in Ostgalizien aus, da die geplante Einnahme der kaukasischen, persischen und irakischen Ölfelder scheiterte. Zunächst hatten noch Lieferverträge mit der Sowjetunion und Rumänien sowie überraschende Ölfunde in Österreich geholfen, die chronische Treibstoffknappheit zu mindern, ehe ab 1940 mehr Treibstoff synthetisiert als importiert wurde. Ein früherer Angriff auf die Hydrierwerke - die "Battle of Leuna" fand erst im Mai 1944 statt - hätte demnach den Krieg rascher beenden können.

Raymond Stokes verfolgt im zweiten Teil (1945-1974, 247-383) die Entwicklung der Mineralölwirtschaft in den ersten Nachkriegsjahrzehnten und klammert dabei glücklicherweise die DDR nicht aus. Wie die übrigen Zentralverwaltungswirtschaften tendierte der ostdeutsche Staat zu Selbstversorgung und Innovationsbehinderung. Die reichen Braunkohlevorkommen und das IG-Farben-Erbe in Gestalt umfangreicher Hydrierkapazitäten verleiteten die Wirtschaftsplaner dazu, länger an den deutschen Autarkie-Traditionen festzuhalten. Erdöl deckte nie viel mehr als drei Prozent des Energiebedarfs der DDR. Mit dem ambitionierten Chemieprogramm von 1958 gelang auf Grundlage umfangreicher Erdöllieferungen aus der Sowjetunion, die über die neue Pipeline "Freundschaft" abgewickelt wurden, der Einstieg in die Petrochemie. Allerdings begab man sich in eine verhängnisvolle Abhängigkeit, ohne das weitere Zurückfallen hinter der Bundesrepublik verhindern zu können. Als die DDR in der ersten Ölkrise dazu überging, aus sowjetischem Erdöl raffinierte Produkte gewinnbringend an kapitalistische Staaten zu verkaufen, und dabei laut Stokes überraschend unternehmerisch vorging, ließ eine Antwort nicht lange auf sich warten. 1980 wurden die sowjetischen Öllieferungen drastisch gekürzt, da die UdSSR nun ihrerseits auf den Weltmarkt setzte, um die Devisenbilanz aufzubessern. Die DDR reagierte mit der kostspieligen, vertieften Spaltung des verbleibenden Erdöls und mit verstärktem Einsatz von Braunkohle. Die hohen Investitionen in einen veralteten Energieträger bewirkten die "kumulative Selbstzerstörung" (343) der DDR-Wirtschaft und führten zu den bekannten Umweltschäden.

Auch in der Bundesrepublik gab es keine "Stunde Null". Doch gelang durch das konsequente Setzen auf Rohölimporte und den Aufbau heimischer Raffinerie-Kapazitäten, finanziert durch den Marshall-Plan, ein deutlicher Bruch mit der Vergangenheit. Zudem war die Bundesrepublik der größte Rohölproduzent Europas und konnte in den 1950er-Jahren immerhin ein Drittel des Bedarfs durch die inländische Förderung decken. Der Übergang zur Petrochemie wurde nach einigem Zögern recht reibungslos bewerkstelligt, da die IG-Farben-Nachfolger BASF und Bayer entsprechende joint ventures mit Shell beziehungsweise BP gründeten. Obwohl Steuervergünstigungen für hydriertes Benzin aus heimischem Rohöl noch einige Zeit fortbestanden, wurde der westdeutsche Mineralölmarkt doch schrittweise liberalisiert, sodass schließlich die "liberalste Wirtschaftsstruktur der gesamten industrialisierten Welt" (323) entstand. Der harte Konkurrenzkampf kam den Verbrauchern mittels fallender Preise zugute, stürzte die verbliebenen westdeutschen Unternehmen aufgrund ihrer schwachen Rohölbasis jedoch in die Krise.

Beide Teile des Buches sind auf Grundlage der Forschungsliteratur und zahlreicher Archiv-Quellen gearbeitet. Während Karlsch in stärkerem Maße Details anbietet sowie ein Interesse an technischen und geologischen Feinheiten offenbart, ist der Gestus bei Stokes insgesamt analytischer, was allerdings zu einigen Redundanzen in der Darstellung führt. Beide Autoren haben ihre Stärken in der Industrie- und Firmengeschichte und verstehen es, die in ihrer Vielzahl reichlich verwirrenden Fusionen, Übernahmen und Firmen-Umbenennungen gekonnt vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung zu präsentieren. Sozial- oder kulturgeschichtliche Aspekte bleiben dagegen unterbelichtet. Lediglich über die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der bergmännischen Ölgewinnung des Wietzer Erdölschachtbaus wird man kurz informiert (120 f.).

Wohltuend sind die ausgewogenen Urteile, mit denen beide Autoren die von ihnen geschilderten Entwicklungen bewerten. Wenn etwa Karlsch die Kooperation der IG Farben mit dem NS-Regime zurückhaltender beurteilt, als dies lange Zeit in der Forschung üblich war, geschieht das keineswegs aus konzernnaher Haltung oder gar in revisionistischer Absicht, sondern spiegelt schlicht den Forschungsstand seit den späten 1980er-Jahren wider. [1] Ent-Dämonisierung bedeutet hier keineswegs das Verleugnen von Schuld und Verantwortung: ein Kapitel ist dem menschenverachtenden Einsatz von Zwangsarbeitern in der Ölindustrie während des Zweiten Weltkriegs, insbesondere in estnischen Ölschiefergruben und in Galizien, gewidmet (224 ff.).

Kritisch vermerkt werden müssen einige Stilblüten im zweiten Teil, die bei der Übersetzung des englischsprachigen Originals entstanden sein dürften: Dass "die Ostmark [...] nach 1945 wieder zu Österreich gehörte" (256), ist eine ziemlich missverständliche Formulierung. An SED-Parteipropaganda erinnert dagegen, wenn "geradezu übermenschliche Leistungen" (344) der Ostdeutschen beim Aufbau der Mineralölindustrie erkannt werden. Wirtschaftliche Erfolge der DDR mögen erklärungsbedürftig sein. Stokes hat diese Interpretationslinie bereits in seiner wichtigen Studie zur Wirtschafts- und Technikgeschichte der DDR stark gemacht. [2] Pathetische Anleihen bei Nietzsche müssen dazu jedoch nicht unbedingt gemacht werden.

Bedauerlich ist, dass die Gewinn bringende und lesenswerte Darstellung mit der ersten Ölkrise von 1973, über deren Auswirkungen man nichts mehr erfährt, ziemlich abrupt abbricht. Die hierfür gelieferte Begründung, die Strukturen der bundesdeutschen Mineralölwirtschaft hätten sich bis dahin weitgehend herausgebildet, kann nicht voll überzeugen. Gerne hätte sicherlich nicht nur der Rezensent etwas über die vermutlich spannende Entwicklung in den letzten 30 Jahren, über veränderte Mentalitäten und Reaktionen auf alternative Energieträger erfahren. Auch die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf die Mineralölwirtschaft wären in diesem Rahmen von Interesse. Knappe Andeutungen zu diesen Problemen erhält man im abschließenden Resümee. Ausführlicher haben die beiden Autoren zumindest Teile dieser Geschichte bereits an anderer Stelle erzählt. [3]

Anmerkungen:

[1] Peter Hayes: Industry and Ideology, IG Farben in the Nazi Era, 2. Auflage, Cambridge 2001.

[2] Raymond G. Stokes: Constructing Socialism, Technology and Change in East Germany, 1945-1990, Baltimore 2000.

[3] Rainer Karlsch und Raymond Stokes: Die Chemie muss stimmen, Bilanz des Wandels, 1990-2000, Leipzig 2000.

Uwe Fraunholz