Rezension über:

Antje Hartmann: Osteraufstand und Bürgerkrieg. Die irische Revolution in Geschichte und Literatur (= Europäische Geschichtsdarstellungen; Bd. 3), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, XIV + 394 S., ISBN 978-3-41208203-1, EUR 44,90
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Rezension von:
Jürgen Elvert
Seminar für Geschichte und für Philosophie, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Elvert: Rezension von: Antje Hartmann: Osteraufstand und Bürgerkrieg. Die irische Revolution in Geschichte und Literatur, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/4394.html


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Antje Hartmann: Osteraufstand und Bürgerkrieg

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Das hier vorzustellende Buch ist eine anglistische Dissertation, der Rezensent ist Historiker. Damit wäre bereits ein Spannungsfeld abgesteckt, in dem diese Besprechung entstanden ist. Ein weiteres Spannungsfeld erzeugt die Dissertation selbst: Sie ist bewusst als eine interdisziplinäre Arbeit angelegt, die die Behandlung eines historischen Themas durch Geschichtswissenschaft einerseits und Literaturwissenschaft andererseits untersucht, um so Gemeinsamkeiten, Unterschiede und wechselseitige Befruchtungsmöglichkeiten in der Darstellung herauszuarbeiten. Das dritte Spannungsfeld ergibt sich aus den gewählten Untersuchungsgegenständen, dem Osteraufstand von 1916 und dem Bürgerkrieg von 1922/23 als den beiden Eckdaten der "irischen Revolution", die den Weg von 26 der 32 irischen Grafschaften aus der anglo-irischen Union in die Teilunabhängigkeit eines Dominion im britischen Weltreich ebnete.

Aufstand und Bürgerkrieg stehen somit am Anfang der irischen Unabhängigkeit, jedenfalls der südirischen, die 1948 endgültig mit der Sezession vom British Commonwealth of Nations und der Gründung der irischen Republik erreicht wurde - freilich um den Preis der Vertiefung der seit 1922 andauernden Teilung des Landes. Es waren blutige Anfangsjahre, in dessen Verlauf die irische Bevölkerung in zwei Lager zerfiel - in das der um Ausgleich und Friedensschluss mit Großbritannien Bemühten und jenes der radikalen Republikaner, die sich nicht mit dem Status eines Dominion zufrieden geben wollten, sondern die bedingungslose Auflösung der anglo-irischen Union forderten. Noch heute spiegelt sich diese Spaltung in den beiden großen Parteien des irischen politischen Systems: Fianna Fáil wurzelt in ihrem Selbstverständnis in der Gegnerschaft zum anglo-irischen Ausgleich von 1922, Fine Gael hingegen sieht sich als legitime Nachfolgerin jener Kräfte, die seinerzeit den Ausgleich als Chance begriffen, um das Land auf dem politischen Verhandlungsweg in die vollständige Unabhängigkeit zu führen. Dass sich diese Spaltung auch in der irischen Historiografie niedergeschlagen hat, kann, so gesehen, nicht überraschen, insbesondere auch nicht angesichts der Bedeutung von Geschichte als Bestandteil der irischen Identitäten.

Weil sich seither um Osteraufstand und Bürgerkrieg viele Mythen gerankt haben, die ihren Niederschlag sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Literatur fanden, erschienen beide Aspekte Antje Hartmann thematisch gut geeignet für eine Untersuchung, die sich mit der Frage der Gewinnung von aussagefähiger historischer Erkenntnis trotz offensichtlicher immanenter Unzuverlässigkeit wegen der Unwiderruflichkeit von Vergangenheit befasst. Damit wären wir bei der Frage der "Objektivität" der Historiografie, einem laut Aussage Hartmanns "vieldiskutierten Punkt in der Geschichtswissenschaft, aber vor allem in der postmodernen Philosophie" (3).

Spätestens hier stutzt der Historiker zum ersten Mal, klingt diese Aussage doch so, als habe die "postmoderne Philosophie" die eigentliche Bedeutung des Objektivitätsproblems in der Geschichtsforschung überhaupt erst erkannt. Mit einer bemerkenswerten Nonchalance verschweigt die Verfasserin, dass es sich dabei spätestens seit Ranke um das zentrale erkenntnistheoretische Problem der Geschichtswissenschaft überhaupt handelt, das den methodischen Diskurs des Faches seit nunmehr zwei Jahrhunderten wie ein roter Faden durchzieht und in dessen Folge ganze Disziplinen wie Soziologie oder die politischen Wissenschaften neu entstanden sind. Somit ist ihre "These zur Geschichtsschreibung des Osteraufstandes", die große Mehrheit der Historiker, vor allem der irischen, seien so von ihrem eigenen politischen Kontext geprägt, dass sie die Darstellung und Ereignisse stark polarisiert hätten (4), auch nicht neu, sondern beschreibt das altbekannte Problem der Standortgebundenheit geschichtswissenschaftlicher Aussage. Es ist eben so, dass die Menschen in bestimmten sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten aufwachsen, die sie für den Rest ihres Lebens prägen.

Literaten empfinden solche Prägungen in der Regel als fruchtbar. In der Geschichtswissenschaft stellt es sich bekanntlich etwas schwieriger dar. Das Wissen um die Standortgebundenheit und den damit verbundenen gelegentlichen Missbrauch der Wissenschaft als Legitimationswissenschaft hat die Historiografie verunsichert und seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts die fachspezifische Methodendiskussion erneut angeregt. In diesem Zusammenhang jedoch darauf zu verweisen, dass das Problem des fehlenden direkten Zugangs zur Vergangenheit "von postmodernen Theoretikern besonders betont" worden sei (12), ist schlicht unzutreffend. Diese zogen lediglich die radikalsten Konsequenzen daraus, allen voran Jacques Derrida, der historiografische Aussagen als bloße Textkonstruktionen definierte und ihnen damit jeden Anspruch auf objektive Aussagekraft verweigerte. Die daran anknüpfende Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen des Derrida'schen Ansatzes wird von Hartmann umfassend referiert, der darauf aufbauende theoretische Diskurs in seinen vielfältigen Verästelungen und Nuancen auf circa 60 Seiten erschöpfend rekapituliert. Dabei bezieht sich die Verfasserin weitgehend auf angelsächsische und französische Überlegungen, deutsche theoretische Ansätze werden, soweit sie sich nicht ausdrücklich mit Aspekten der Postmoderne befassen, nicht berücksichtigt. In diesem Zusammenhang wäre es freilich hilfreich gewesen zu hinterfragen, warum gerade die deutsche Historiografie, die die geschichtswissenschaftliche Methodik zweifellos erheblich mitgeprägt hat, postmoderne Überlegungen eher unterkühlt zur Kenntnis genommen hat. Derlei Fragen scheinen jedoch für die Verfasserin ebenso wenig eine Rolle zu spielen, wie sie die zwar kleine, gleichwohl aktive deutsche Irlandforschung völlig ignoriert. Gerade vor dem Hintergrund des Standortproblems hätte es nützlich und weiterführend sein können, nicht-irische Darstellungen ihrer Untersuchungsgegenstände als Tertium Comparationis heranzuziehen - und was hätte angesichts der Herkunft der Verfasserin dann näher gelegen als entsprechende deutsche Arbeiten?

Der historische Ort von Osteraufstand und Bürgerkrieg wird jeweils knapp auf wenigen Seiten skizziert, ohne dass die historischen Zusammenhänge näher beleuchtet würden. Hier möchte die Verfasserin durch noch knappere Hinweise auf die Quellenlage weiterhelfen. Dabei übersieht sie freilich einige zentrale Aktenbestände wie zum Beispiel die des Provisional Dáil Eireann zwischen 1919 und 1921 zum Bürgerkrieg, die zusammen mit den Akten der Folgekabinette vor ihrer Abgabe ans irische Nationalarchiv im State Paper Office verwahrt wurden. Dass zur Erforschung von Osteraufstand und Bürgerkrieg natürlich auch das entsprechende britische Material mit herangezogen werden muss, sei hier nur der Ordnung halber erwähnt, weil auch darauf jeder Hinweis fehlt.

In zwei weiteren größeren Abschnitten setzt sich die Verfasserin mit der Darstellung der beiden Untersuchungsgegenstände in der englischsprachigen, vornehmlich irischen Geschichtswissenschaft und der literarischen Behandlung der Themenbereiche auseinander. Beide Teile können grundsätzlich als durchaus gelungen bezeichnet werden, erfährt man doch manches Wissenswerte über die verschiedenen Trends und Strömungen in der irischen Historiografie und Literatur. Allerdings sind auch hier einige Einschränkungen zu machen, insbesondere was die Einschätzung mancher irischer Historiker betrifft (für den literaturwissenschaftlichen Teil mangelt es dem Rezensenten an Fachkompetenz). Nur einige Beispiele: Joe Lee ist natürlich kein "irischer Muttersprachler" (101, das sind die wenigsten irischen Historiker), David Harkness' "gewagte Einstellung" (180) wird erst dann verständlich, wenn man weiß, dass er einen dezidiert unionistischen Standpunkt vertritt. Was Dermot Keogh betrifft, so stellt Nordirland für ihn (als Iren ebenso wie als Schüler und Nachfolger Joe Lees) selbstverständlich einen festen Bestandteil seines Lebens dar (180), die Auslassung in seinem Buch Twentieth-Century Ireland erfolgte ausschließlich aus pragmatischen Gründen, denn die Behandlung Nordirlands hätte den Rahmen gesprengt. Und wenn die Verfasserin meint, dass es sich bei der Republik Irland und Nordirland um "zwei verschiedene Länder" handelt (181), so scheint sie noch nie von der "gesamtirischen Dimension" gehört zu haben, auf die beispielsweise auch im Karfreitagsabkommen von 1998 hingewiesen wird.

Was soll man von diesem Buch halten? Der Rezensent ist ratlos. Möglicherweise ist ihm als "traditionellem Historiker" (so bezeichnet die Verfasserin ohne Unterscheidung der jeweiligen Forschungspräferenzen die große Mehrheit all jener Historiker, die postmodernen Ansätzen vergleichsweise weniger gewogen sind, vgl. 20 und öfter) die postmoderne Argumentationsebene der Arbeit verschlossen geblieben, doch aus seiner eben "traditionellen" Sicht bietet auch das Fazit der Arbeit wenig Anlass zum Jubel. Wenn die Verfasserin darauf hinweist, dass "Historiker kaum noch über den Osteraufstand schreiben können, sondern nur noch über den Mythos, der sich um ihn gebildet" habe (376), so halte ich diese Aussage für unsinnig - es sei denn, sie betrachtet jedes historische Phänomen von vornherein als "mythisiert". Auch sind Osteraufstand und Bürgerkrieg keineswegs nur "aus dem Zusammenprall verschiedener Mentalitäten entstanden, die sich innerhalb der nationalistischen Bewegung gebildet hatten" (376). Würde man diese Meinung teilen, hieße das, den Gesamtkomplex der anglo-irischen Geschichte sträflich zu vernachlässigen. Es mag sein, dass die vorliegende Arbeit aus literaturwissenschaftlicher Sicht Sinn macht, aus der Sicht des rezensierenden "traditionellen Historikers" überwiegen jedoch die Bedenken und begründen das Fazit: Der Ansatz der Arbeit, den Quellenwert von Literatur für die Geschichtswissenschaft überprüfen zu wollen, ist durchaus begrüßenswert, das Ergebnis jedoch enttäuschend, wenn abschließend lapidar festgestellt wird, das Historiker anderen methodischen Gesetzen gehorchen müssen als Schriftsteller (379). Das hätte wenigstens der Historiker auch schon vorher gewusst.

Jürgen Elvert