Rezension über:

Siegfried Weichlein: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa (= Geschichte kompakt), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, VII + 152 S., ISBN 978-3-534-15484-5, EUR 14,90
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Rezension von:
Guido Thiemeyer
Universität Siegen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Guido Thiemeyer: Rezension von: Siegfried Weichlein: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/9139.html


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Siegfried Weichlein: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa

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Die Nation und der Nationalismus gehören schon seit langer Zeit zu den klassischen Themen der Geschichtswissenschaft. Auch wenn es inzwischen Nationen in allen Teilen der Welt gibt, ist ihr Ursprung doch spezifisch europäisch, der Siegeszug der Nation als kulturelles und gesellschaftliches Ordnungsprinzip ging von Europa aus. Insofern sind Nation- und Nationalismusforschung in starkem Maße Themen einer europäischen Geschichtsschreibung. Obgleich der Nationalismus in manchen Teilen Europas heute eine Renaissance oder eine Neudefinition erfährt, liegt der Höhepunkt dieser Entwicklung doch im 19. Jahrhundert, das als "Zeitalter der Nationalstaaten" apostrophiert wurde. Das Buch des Fribourger Historikers Siegfried Weichlein konzentriert sich auf die Analyse der Nationalbewegungen und Nationalismen des 19. Jahrhunderts. Die Darstellung ist als einführende Lektüre für Studierende und Lehrende konzipiert; sie versteht sich ganz im Sinne der Reihe "Geschichte kompakt" als Zusammenfassung der wesentlichen Forschungsergebnisse zu diesem Thema.

In den beiden ersten Kapiteln unterscheidet Weichlein zwischen der Nation als Identitätsformel und als Integrationsformel. Beide, darauf weist er einleitend hin, gehören zusammen: Die Nation verbürgte für den Einzelnen Identität in einem Kollektiv. Die konnte über sprachliche, kulturelle, ethnische oder religiöse Argumentationsmuster funktionieren. Die im Rahmen dieser Kategorien geschaffene Identität war dann Voraussetzung für die Integration der modernen Gesellschaft. In diesen beiden Kapiteln werden dann auch die modernen Theorien des Nationalismus von Anderson, Hobsbawm und Gellner referiert.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wann der moderne Nationalismus entstand. Hier spielten die von Koselleck beschriebene "Sattelzeit" zwischen 1750 und 1850 und die große Französische Revolution eine Schlüsselrolle. In diesen Jahren, verstärkt nach 1789, wurden die politischen und kulturellen Denkmuster geprägt, die dann für die Entstehung von Nation und Nationalismus wesentlich werden sollten.

Getragen wurde der Nationalismus zunächst von kleinen Eliten in den europäischen Gesellschaften. (Kapitel 4) Erst durch die politische und industrielle Doppelrevolution übernahm das sich nun als führende Gesellschaftsschicht etablierende Bürgertum den Nationalismus als identitätsstiftendes Integrationsmuster. Insbesondere der Liberalismus adoptierte den Nationalismus als tragende Ideologie. Diese allgemeinen Aussagen werden von Weichlein für die verschiedenen europäischen Staaten exemplifiziert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurden auch die Unterschichten in die Nation integriert, sei es durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft oder die Ausweitung des Wahlrechtes. Eine besondere Rolle spielte die Arbeiterschaft, die sich sowohl national (als Schicksalsgemeinschaft) als auch international definierte.

Das fünfte Kapitel thematisiert den Nationalismus als Massenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Entstehung von Nationalstaaten durch Kriege (Deutschland, Italien) und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die national einheitliche Schule oder auch die allgemeine Steuerpflicht führten zu einer immer stärker werdenden Präsenz des Nationalstaates im Leben des Einzelnen. Auch die Ausweitung des Wahlrechtes beförderte die politische und soziale Integration der Massen in den Nationalstaat. Das sechste und letzte Kapitel geht im Sinne von Anderson und Hobsbawm auf die Mythisierung der Nation ein. Diese wurde nicht zuletzt von den nationalen Geschichtswissenschaften vorangetrieben und wirkt in weiten Teilen bis in die Gegenwart hinein.

Insgesamt ist das Buch als Einführung in die Problematik gelungen. Die Darstellung greift die wesentlichen Themen der Forschung auf und ist zudem verständlich und gut lesbar. Es bleiben aber auch Fragen: Zum einen könnte man fragen, ob die Differenzierung zwischen dem Konzept der Nation als Identitätsformel und als Integrationsformel geschickt ist. Sind dies nicht zwei Seiten der gleichen Medaille, wobei die Identität die kulturellen Aspekte, die Integration die gesellschaftliche Seite darstellt? Die beiden ersten Kapitel enthalten daher auch zahlreiche Redundanzen, die vermeidbar gewesen wären, wenn diese Differenzierung nicht so stark betont worden wäre. Zudem könnte man für eine mögliche Neuauflage des Buches in Erwägung ziehen, ein Kapitel über den Internationalismus im 19. Jahrhundert hinzuzufügen. Hier könnte gezeigt werden, dass das Konzept des Nationalstaates als moderner gesellschaftlicher Organisation schon im 19. Jahrhundert in vielen Bereichen an seine Grenzen stieß und nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Guido Thiemeyer