Rezension über:

Charlotte Schubert: Der hippokratische Eid. Medizin und Ethik von der Antike bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, 122 S., ISBN 978-3-534-18770-6, EUR 34,90
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Rezension von:
Ferdinand Peter Moog
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Ferdinand Peter Moog: Rezension von: Charlotte Schubert: Der hippokratische Eid. Medizin und Ethik von der Antike bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/9263.html


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Charlotte Schubert: Der hippokratische Eid

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Der Eid des Hippokrates ist zweifellos heutzutage der "Star" unter den zahlreichen Schriften des Corpus Hippocraticum und genießt, im Gegensatz zum Rest der Werke, geradezu allgemeine Bekanntheit. Selbst ärztliche Kollegen und Altertumsfreunde, die des Altgriechischen gar nicht mächtig sind, erwerben ihn in liebenswürdiger Verehrung auf großformatigen Postern, etwa in Kos-Stadt unter der legendären Platane des Hippokrates - natürlich mit aufgeleimtem getrockneten Originalblatt des wundersamen Baumes -, um ihn ziersam in Wohnung oder Praxis anzubringen und die geheimnisvollen Schriftzeichen auf sich wirken zu lassen. Andererseits ist der Eid des Hippokrates ein beliebtes Totschlagargument, wenn Ärzte, ganz gleich in welchem Zusammenhang, etwa von uneinsichtigen oder unwilligen Patienten, gefügig gemacht werden sollen. "Aber Sie haben doch den Eid des Hippokrates geschworen ..." gilt als nimmer fehlendes Zauberwort, soll der Medicus zur Raison gebracht oder gar mundtot gemacht werden. Dabei entbehrt dies jeder Historizität. Gerade im Altertum dürften die wenigsten Ärzte auf diesen "Eid" verpflichtet worden sein. Gewisse Hippokratiker mögen ihn als Mittel der Abgrenzung nach außen wie Konsolidierung nach innen geschätzt und abgefordert haben. Vielleicht war gerade dieser Eid sogar ein Versuch der eher außergewöhnlichen Selbstdarstellung mit dem Ziel, sich Marktanteile zu sichern. Die Mehrzahl der verschiedenen alten Ärzteschulen mag zwar ebenfalls einen gewissen Corps-Geist beschworen oder Lehrverträge geschlossen haben, aber nicht mit vergleichbaren ethischen Maximen. Im Stile der alten Sophisten werden sie eher dem Prinzip "Bildung gegen Bargeld" gehuldigt haben.

Es verwundert nicht, dass über ein so breitenwirksames Dokument schon viel geschrieben wurde. Zahlreiche Fachgelehrte diverser Disziplinen haben sich in verschiedenem Umfang aus unterschiedlichen Richtungen dem Eid genähert, wie das umfangreiche Literaturverzeichnis der hier vorzustellenden Studie belegt. Gerade wer in der Medizingeschichte etwas auf sich hielt oder hält, fühlte und fühlt sich oft bemüßigt, in das Konzert einzustimmen. Dabei hat sich die Sekundärliteratur zum Teil zu einem schwer durchdringlichen Dickicht entwickelt, das insbesondere dem Nicht-Fachmann den Zugang bisweilen verstellt.

Umso verdienstvoller ist es daher, wenn nun mit Charlotte Schubert eine Althistorikerin mit einem Forschungsschwerpunkt in der Medizingeschichte dem Eid des Hippokrates eine deutschsprachige Monografie widmet, die sich dem eigentlichen Eid noch einmal explizit zuwendet und nicht gleich mit Meinungen und Mutmaßungen über ihn glänzt. Die Verfasserin geht in bestem Sinne "ad fontes" und schließt so zugleich neue sprudelnde Quellen auf.

Ausgehend vom vorangestellten Wortlaut des Eides wird zunächst seine Überlieferungsgeschichte vermittelt, die schon dadurch überrascht, dass die frühesten Testimonien erst aus der Zeit des Imperium Romanum stammen - Jahrhunderte nach dem Tode des Hippokrates. Das älteste Textzeugnis ist gar erst ein Papyrus des 3. nachchristlichen Jahrhunderts. Zudem erweist es sich, dass die Textüberlieferung zahlreiche inhaltliche Nuancen aufweist und ohnehin die Antike zahlreiche ähnliche Verpflichtungs- und Vertragsformeln kannte, denen die Autorin auch eine weitere Publikation [1] gewidmet hat. Was den hippokratischen Eid aber von diesen weitgehend abhebt und auszeichnet, sind formal "die sakralen und rituellen Anklänge" (29) und inhaltlich "seine partiell sehr einseitige Ausrichtung auf eine Ethik, die für die Antike nie repräsentativ war" (67). Im Folgenden wird versucht, den Hintergrund, vor dem man Werden und Entwicklung der Eidesformel betrachten muss, näher zu erhellen. Dazu wird ein nützlicher Überblick über die so genannte hippokratische Medizin, die gesellschaftliche Stellung von Ärzten im Altertum und eine mögliche spezifische Ethik der Hippokratiker gegeben. Das als so typisch hippokratisch apostrophierte "primum nil nocere" wird dabei als "zu den ältesten alltagsethischen Handlungsmaximen" (54) gehörig erkannt. Danach wendet sich die Verfasserin dem historischen Hippokrates zu, an dessen Existenz zwar nicht - wie schon geschehen - gezweifelt wird. Gleichwohl zeigt sich, wie schon im Altertum eine rege Legendenbildung einsetzte, die bis in die Neuzeit teilweise sogar mit Bedacht fortgesponnen wurde.

Unter anderem die Nähe seiner Ethik zu christlichen Idealen hat das Fortleben des hippokratischen Eides gesichert, der allerdings schließlich insbesondere durch die Wertschätzung namhafter Humanisten (72) die Bedeutung erreichte, die er denn bis heute hat. Grundsätzlich ist dabei auch ein möglicher Perspektivenwechsel zu beobachten: War der Eid ursprünglich offenbar Teil des Aufnahmerituals in die Lehr- und Lerngemeinschaft, wurde er zunehmend gerade als Abschluss derselben und Verpflichtung für die folgende eigenverantwortliche Berufstätigkeit bevorzugt. Seit dem 19. Jahrhundert ist schließlich eine immer weitgehendere Auffächerung ärztlicher ethischer Verpflichtungsformeln zu konstatieren, die immer rascheren gesellschaftlichen, historischen und wissenschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen sollen.

Charlotte Schuberts Werk stellt im besten Sinne eine "satura lanx" zum Thema Eid des Hippokrates dar, von der viele Disziplinen ihren Nutzen ziehen und sich gerne bedienen werden. Dass dabei jeder etwas vermissen und andererseits entbehrlich finden wird, ist klar, aber unvermeidlich und im Sinne des möglichst breiten Lesepublikums völlig vertretbar: Der Altphilologe etwa hätte sich eine kritische Textausgabe des Eides gewünscht, wobei der Textkritik im Verlauf der Darstellung doch ganz beachtlicher Raum gewidmet wird, ist aber sicher dankbar für die reichhaltige Erörterung des geistigen Umfeldes der Entstehung. Der Medizinhistoriker bedürfte keiner so eingehenden Darstellung der hippokratischen Medizin, wird aber an den Papyri und Quellentexten seine Freude haben. Als genereller Einstieg in die Problematik "Hippokratischer Eid" ist das Werk hervorragend und kann diesbezüglich nur empfohlen werden. Ausführliche Anmerkungen und ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis belegen den wissenschaftlichen Anspruch der Studie und gestatten tieferes Vordringen in die Thematik. Ein unbestreitbarer Vorzug ist schließlich der Abdruck zahlreicher weiterer verpflichtender Formeln aus dem Bereich der Medizin, die dem Eid verwandt oder ähnlich sind. Nicht zuletzt dadurch wird Charlotte Schuberts Darstellung nicht nur zum Lehr- und Lernbuch, sondern auch zur Dokumentation zum Nachschlagen wie gerade auch zur handlichen Quellensammlung für die Arbeit im Seminar.

Der Verfasserin ist ein bemerkenswertes Werk - zudem in gefälliger Aufmachung - gelungen, dem man zahlreiche Leser aus dem breiten möglichen Kreise von Nutznießern (Mediziner, Altphilologen, Medizinhistoriker, Medizinethiker, Althistoriker, Theologen, interessierte Laien etc.) wünschen möchte. Nur einige unglückliche Druckfehler - wie etwa "ὅρκογ" (12), "Parsosns" (97) oder "Geneh-migung" (122) - wüsste man in der sicherlich bald anstehenden zweiten Auflage gerne bereinigt.


Anmerkung:

[1] Charlotte Schubert und Reinhold Scholl: Der Hippokratische Eid: Wie viele Verträge und wie viele Eide?, in: Medizinhistorisches Journal 40 (2005), 247-273.

Ferdinand Peter Moog