Rezension über:

Christiane Leidinger: Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elberskirchen (1864-1943), Konstanz: UVK 2008, 480 S., 67 s/w-Abb., ISBN 978-3-86764-064-0, EUR 24,90
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Rezension von:
Marion Hulverscheidt
Institut für Geschichte der Medizin, Charité, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Marion Hulverscheidt: Rezension von: Christiane Leidinger: Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elberskirchen (1864-1943), Konstanz: UVK 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/14534.html


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Christiane Leidinger: Keine Tochter aus gutem Hause

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Keine Tochter aus gutem Hause - keine Biografie der klassischen Art! Die Historikerin Christiane Leidinger legt auf knapp 480 Seiten eine Biografie über eine heute nahezu vergessene und, wie sich am Ende der Lektüre herausstellt, zu ihrer Zeit wirkmächtige Person vor. Die Gründe, warum Elberskirchen aus der Rezeption und dem 'kollektiven Gedächtnis' geriet, werden die Leserinnen und Leser nicht erfahren. Leidinger gebührt der Verdienst, Elberskirchen aus diesem Vergessensein heraus einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht zu haben. Allerdings scheint sie einer häufigen Gefahr von Biografen zu erliegen, der zu starken Identifikation mit der Biografierten.

In sieben Kapiteln, fünf großen, zwei kleinen, werden das Leben und das Umfeld, die vielfältigen Kontexte der Johanna Elberskirchen dargestellt. Für diese Beschreibung einer Lebensgeschichte konnte die Autorin nicht auf einen geschlossenen Nachlass oder ein zusammenhängendes Aktenkonvolut zurückgreifen. Diese Basis, dieser Ansporn für eine Biografie im klassischen Sinne, verstanden als das Nachzeichnen einer Person, eines in sich geschlossenen Selbst, herausgelöst aus den gesellschaftlichen Strukturen, gibt es für Leidinger nicht. Vielmehr hat sie sich für "bewusste Konstruktion" (20) entschieden, um die Lebenswelt Elberskirchens zu erfassen. Eine interessante und streckenweise lohnenswerte Herangehensweise.

Elberskirchen war eine Ausnahmeerscheinung. 1864 geboren, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen im Rheinland stammend, besuchte sie das Lyzeum in Bonn. 1891 immatrikulierte sie sich in Bern für das Studium der Medizin. Zuvor hatte sie sieben Jahre als "Buchhälterin" (24) laut Selbstbeschreibung, als "Kassiererin", so der Eintrag in der Einwohnermeldekartei, in Rinteln gearbeitet. Zu Beginn ihres Studiums lernte sie auch ihre langjährige Lebensgefährtin Anna Eysoldt kennen, die gute Kontakte zur Familie Bebel pflegte und deren Schwester als Opernsängerin einen Namen hatte. Elberskirchen studierte bis 1894/95, legte allerdings kein Staatsexamen ab. Ob aus politischen Gründen oder aus Geldmangel konnte nicht nachvollzogen werden. Schon früh bekannte sie sich mit einer für ihre Zeit bemerkenswerten Offenheit zu ihrer homosexuellen Neigung. Sie publizierte feministische Schriften, bewegte sich im Umfeld der Lebensreform- und der Frauenbewegung, doch gänzlich vereinnahmen ließ sie sich von niemandem.

In ihrer Schaffensperiode von etwa 1901 bis 1914 veröffentlichte sie wissenschaftskritische und feministische Streitschriften, sie war dem wissenschaftlich-humanitären Komitee von Magnus Hirschfeld verbunden und stand der Sozialdemokratie nahe. Für jene Zeit enorm, bekannte sich Elberskirchen offen zu ihrem Frauenbegehren. Sie veröffentlichte in der Zeitschrift "Die Freundin" sowie Einzelpublikationen gegen die Ausgrenzung und Pathologisierung des "Dritten Geschlechts". Widersprüchlich dazu mutet es gleichwohl an, dass Elberskirchen auch auf allgemeingesundheitlichen Feldern, vor allem auf dem Gebiet der Säuglings- und Kinderheilkunde publizierte. Hierfür können am ehesten finanzielle Erwägungen angenommen werden. 1907 gab sie gemeinsam mit ihrer Freundin den Ratgeber "Die Mutter als Kinderärztin" heraus (223). Dabei handelt es sich um eine übliche Form der Publikation von Ärztinnen aus dem Kaiserreich, das wohl bekannteste ist das Ratgeberwerk "Die Frau als Hausärztin" von Anna Fischer-Dückelmann, welches erstmals 1896 erschienen war. Leidinger zeigt Ähnlichkeiten in den beiden Publikationen auf und stellt diese auch mit ihren akribisch erkundeten Überschneidungen der Lebenswege von Fischer-Dückelmann und Elberskirchen/Eysoldt dar. Alle hatten in Bern Medizin studiert, alle hatten einen Bezug zur Lebensreform und den Treffpunkten derselben im Tessin. Fischer-Dückelmann war konservativ eingestellt, was ihre Auffassung von der weibliche Befriedigung und dem "dritten Geschlecht" betraf. Mit ein wenig Mut zur These hätte sich hier ein spannender Punkt des Einhakens gefunden.

Die detaillierte und akribische Darstellung und Zusammenfassung der Schriften und Bücher von Elberskirchen zeugen von einer extensiven publizistischen Tätigkeit, die durchaus ein Auskommen sichern konnte, wie Leidinger auch vermutet. Dennoch hat sie sich gegen die Möglichkeit der Synthese und für eine inhaltliche Werkschau entschieden, die extensiv die von Elberskirchen bearbeiteten Felder präsentiert. Dies erscheint unter dem Aspekt legitim, dass die Schriften von Elberskirchen in der zeitgenössischen Diskussion der frühen Sexualreformbewegung und der Frauenbewegung eine feste Größe waren, was in der Rezeptionsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg vergessen gemacht wurde. Auf über fünfundzwanzig Seiten wird ausführlich die zeitgeistige Debatte um Sozialhygiene, Eugenik und Rassenhygiene dargestellt. Damit wird dem beharrlichen Mythos profund widersprochen, die Frauenbewegung (und auch die Sexualwissenschaft) hätten sich dieser Gedankengänge von Beginn an verwehrt. Im Gegenteil, sie hatten sich dieses Denksystems gerne bedient. Auch Elberskirchen war von der Idee überzeugt, dass es nötig und möglich sei, "hochwertige Kinder hervorzubringen und das Erbgut zu verbessern." (182) Allerdings glitt sie mit ihren Äußerungen nicht in die antisemitische oder rassistische Eugenik ab. Den mit dieser Zeitperiode befassten Historikern ist bekannt, dass die Eugenik nicht erst mit der Vernichtung von vorgeblich lebensunwerten Menschen in Heil- und Pflegeanstalten sondern schon lange vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland und anderswo gedanklich, theoretisch und praktisch verankert war. Leidinger wird es mit dieser fundierten Darstellung von Elberskirchen im eugenischen Denksystem gelingen, den Gedanken zuzulassen, dass die Vorkämpferinnen von einst genauso ihrem Zeitgeist verhaftet waren wie die Aktivistinnen von jetzt.

1913 starb Anna Eysoldt, die langjährige Lebensgefährtin Elberskirchens, ein neuer Abschnitt begann. Elberskirchen ging in ein Sanatorium bei Stettin, um dort als Naturärztin zu wirken. Dies war ihr auch ohne medizinisches Staatsexamen möglich. In ihrer Biografie kreuzen sich immer wieder feministische und lebensreformerische Gedanken, allerdings ist dies keine Seltenheit, waren doch andere emanzipierte Frauen auch in der Lebensreform engagiert und Lebensreformerinnen emanzipiert, wie beispielsweise Anna Fischer-Dückelmann oder Ida Hofmann. Eigen und einzig ist ihr das ausdrückliche Bekenntnis zur homosexuellen Lebensform. Im Sanatorium lernt sie ihre neue Lebensgefährtin, die 27 Jahre jüngere Hildegard Moniac kennen. Der Altersunterschied weist auf ein Lehrerinnen-Schülerinnen-Beziehungsmodell hin, doch war es gerade dieser, der die Möglichkeit des Andenkens und Bewahrens von Elberskirchen erst ermöglichte. Leidinger konnte nämlich von einigen Zeitzeuginnen, Freundinnen von Moniac, Auskunft für ihr Buch erlangen.

Während des Ersten Weltkrieges arbeitete Elberskirchen in der Säuglingsfürsorge in Berlin. 1919 zog sie mit Moniac nach Rüdersdorf bei Berlin, wo sie mit ihren beiden Schwestern bis zu ihrem Lebensende 1943 gemeinsam in einem Haus wohnten. Elberskirchen arbeitete als Heilpraktikerin, ihre Lebensgefährtin als Lehrerin und engagierte sich regionalpolitisch unter anderem in der Sozialdemokratie.

Der Rückzug ins Private der nun über 65-Jährigen wird in der Biografie eng verknüpft mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Die Zwangsentlassung von Moniac aus ihrem Berufsleben als Lehrerin erfolgte im November 1933 mit der Begründung, sie sei eine "politisch unzuverlässige Person." (314) Doch über Elberskirchen, ihre berufliche Tätigkeit als Heilpraktikerin und ihren Alltag unter einem Dach mit ihrer Freundin und ihren Schwestern, konnte Leidinger kaum etwas in Erfahrung bringen. Darüber können auch die Darstellungen über die Zwangsarbeiter in Rüdersdorf, dem letzten Wohnort Elberskirchens, oder über den Aufstieg der sogenannten "Neuen Deutschen Heilkunde" nicht hinwegtäuschen. Hier finden sich, wie an leider zu vielen Stellen im Buch, Konjunktivformulierungen, und das Dargestellte folgt eher einem Musil'schen Möglichkeitssinn als einem Wirklichkeitssinn, die dargebotenen Möglichkeiten bleiben ohne valide Belege Spekulation.

Nach Elberskirchens Tod im Jahre 1943 kam es zu Testamentsstreitigkeiten zwischen der Lebensgefährtin und den Familienangehörigen. Homosexuelle Beziehungen waren zu dieser Zeit nicht institutionell basiert, Lebenspartner wurden verwandtschaftlichen Beziehungen nachgeordnet. So bitter dies auch klingt, gerade diese Situation erbrachte für die Biografin ein Quellenkonvolut, welches letztlich der ausschlaggebende Faktor für die Erstellung dieser Monografie war.

Welches Fazit kann nach der Lektüre dieses Buches, welches mit einem ausgezeichneten Quellen- und Literaturverzeichnis, einer Zeittafel und einem Personen- und Sachregister versehen ist, gezogen werden, wem sei es empfohlen? Allen an der Geschichte der deutschen Lesbenbewegung interessierten Leserinnen und Lesern sei dieses Buch empfohlen, spannend und anregend sind die dargestellten Querverbindungen und Vernetzungen zur Sozialdemokratie, zur Frauen- und Lebensreformbewegung. Dieses Buch ist für ein breites Publikum geschrieben, nicht akademische Selbstbespiegelung sondern Geschichtsvermittlung - auch wenn sie wie im Falle des eugenischen Gedankens schmerzt - ist der Anspruch der Autorin.

Aus historischer Sicht ist die Methode der Montage kritisch zu betrachten. Biografien nur über Menschen zu akzeptieren, von denen ein schriftlicher Nachlass überliefert ist, wäre gewiss einseitig. Doch ganz ohne Egodokumente wie Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen wirkt vieles sehr konstruiert. Die Kritik an der paternalistischen Ignoranz in den Archiven, welche Akten von und über Frauen nicht als archivierungswürdig betrachtet haben, ist wichtig und richtig. Daher ist es umso anerkennenswerter, dass es Leidinger gelungen ist, Elberskirchen ein so ausführliches Buch zu widmen und ihr so ein Denkmal zu setzen. Mit diesem detailverliebten Buch hat Leidinger Elberskirchen in das Gedächtnis der Frauenbewegung und in ihren Wirkungskontext zurückgeholt.

Marion Hulverscheidt