Rezension über:

Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-30013-8, EUR 15,90
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Rezension von:
Stephan Lessenich
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Lessenich: Rezension von: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/15521.html


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Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom

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Wenn zwei Zeithistoriker vom Schlage Anselm Doering-Manteuffels und Lutz Raphaels sich zusammentun, dann freut sich der Soziologe. Mit ihren Thesen von der Westernisierung der Bundesrepublik oder der Verwissenschaftlichung des Sozialen gehören die beiden Autoren von "Nach dem Boom" nun schon seit Längerem zu den wichtigsten und interessantesten Stichwortgebern einer Soziologie, die nach den Zeichen der Zeit fragt und dabei den Blick auf das Gewordensein der Gegenwart lenkt. Mit ihrem gemeinsam verfassten Buch bestätigen sie erneut, wie fruchtbar der wechselseitige Griff ins Regal historischer und soziologischer Zeitdiagnosen für beide Seiten sein kann. Der soziologische Leser des Bandes ist erfreut über den epochenanalytischen Rückgriff des Historikerpaars auf die facheigene Zeitdiagnostik der jüngeren Vergangenheit - und angetan von dem sympathisch vermessenen Anspruch einer "histoire totale" der Gegenwart. Er ist zudem überzeugt, dass die Überwindung der historiografischen Dekadologie zugunsten einer problemzentrierten Perspektive die beiden Disziplinen einander noch näher zu bringen geeignet ist. Und er lässt sich gerne fangen von dem Charme eines historiografisch konstatierten "Paradigmenwechsels der Moderne" (darunter macht es die soziologische Diagnostik selbst ja eigentlich auch nie), von der Verabschiedung der Epoche des industriellen Wohlfahrtskapitalismus und der Begrüßung des "digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus", überhaupt von der die Darstellung durchziehenden Metaphorik des Übergangs.

Sicher, das kleine Bändchen kann - allein seines Umfangs von wenig mehr als hundert Seiten wegen - eher historische Skizzen zeichnen als ein epochales Gemälde malen und es muss schon von der Anlage her mehr ankündigen als es bereits einzulösen vermag. Und klar auch: Die drei Kapitel zu gesellschaftlichem Wandel, sozialwissenschaftlichen Diagnosen und zeithistorischen Perspektiven fallen ein wenig auseinander, sind (noch) zu wenig miteinander vermittelt und verschränkt. Zudem erscheinen die als "Knotenpunkte" zukünftiger Entwicklung identifizierten Forschungsfelder irgendwie zufällig oder jedenfalls unsystematisch zusammengestellt, leicht willkürlich vielleicht und womöglich allzu sehr die eigenen wissenschaftlichen Steckenpferde betonend. Aber wie dem auch sein mag: Die starke These vom Strukturbruch der (west-)europäisch-(nord-)atlantischen Geschichte, von einer versinkenden - oder bereits versunkenen - Epoche einerseits, einer aufsteigenden - immer deutlicher sichtbar werdenden - andererseits, stellt eine auch für die interdisziplinäre Diskussion äußerst produktive Heuristik dar. Wenn ich nun also drei Punkte der Nachfrage, des Zweifels und auch des Tadels vorbringe, dann geschieht dies auf der Grundlage eben dieser überzeugten Anerkennung des heuristischen Werts der von den Autoren vorgeschlagenen Zugänge zur jüngsten Zeitgeschichte.

Der erste Einwand ist auf gewisse Weise kontraintuitiv und auch riskant, insofern der Soziologe die Historiker zu fragen wagt, ob sie in ihrer Rekonstruktion der gegenwartsnahen Zeitgeschichte nicht vielleicht - wie dies ansonsten eher unsereins tut - die Momente des Wandels über- und jene der Kontinuität unterschätzen. Sicherlich ist es auch der (von mir durchaus geschätzten) Lust an der starken Formulierung geschuldet, wenn man in "Nach dem Boom" lesen darf, dass fordistisches Produktionsregime und rheinischer Kapitalismus "Vergangenheit geworden" sind und dass mit deren Abschied "auch die damit verbundenen sozialen und politischen Ordnungsmuster sowie die individuellen Verhaltensgewohnheiten rasch ihre Gültigkeit verloren". Schaut man sich aber in der Gesellschaft unserer unmittelbaren Gegenwart um, so erscheint der Industrialismus - ökonomisch, politisch, kulturell - doch eher als eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Wie deutet man im Lichte der Strukturbruchthese die kriseninduzierte Sorge des Staates (und nicht nur hierzulande) um die Sicherung der nationalindustriellen Kernunternehmen, wie die Konjunktur einer Politik der "Abwrackprämien" (und nicht nur hierzulande), wie die verbreitete Sorge um die Aufrechterhaltung klassisch lohnarbeiterischer - sprich: industriegesellschaftlicher - Lebensführungsmuster? Hat die von den beiden Autoren bereits in Ehren verabschiedete "industrielle Welt" nicht offenkundig ein Leben nach dem Tod? In den sozialen Deutungsmustern, Habitualisierungen und Mentalitäten ist das "Alte" noch präsenter als wir (und das trifft auch die soziologischen Zeitdiagnostiker) dies womöglich wahrhaben wollen. Das aber setzt der Wirkmächtigkeit eines gesellschaftlichen Strukturbruchs gesellschaftliche Grenzen, die es genauer auszuloten gälte.

Ein zweiter Einwurf ist meiner eigenen Forschungspräferenz für eine historisch-politische Soziologie des Wohlfahrtsstaats geschuldet - ein Feld, das im Buch (wie auch im Kanon der dort aufgelisteten Forschungsthemen der Zukunft) erfreulicherweise eine durchaus bedeutsame Rolle spielt, das jedoch überraschenderweise auch bei dem von mir geschätzten Autorenpaar einige typische Assoziationsmuster weckt, die notwendig den Wissenssoziologen auf den Plan rufen. Denn einerseits erkennen Doering-Manteuffel und Raphael hier das zuvor zur Anerkennung eingeklagte Überschüssige des Ancien Régime an: Der Sozialstaat ist für sie ein institutioneller Untoter des industriellen Zeitalters, der auch nach der Krise 1973/74 "überall in Europa eine Selbstverständlichkeit" blieb und "für weitere drei Jahrzehnte die Gesellschaftsordnung des Booms" stabilisierte. Doch wenn es andererseits um die wertende Würdigung dieser lebensverlängernden Maßnahme geht, dann reproduzieren die Autoren - so lese ich die entsprechenden Passagen - relativ ungefiltert die antisozialstaatlichen Wissensbestände sogenannter "neoliberaler" Politik: Da wiesen dann schon zu Beginn der Periode "aufmerksame Rechner" auf sozialpolitische Finanzierungsrisiken hin, da beschritt der Staat seither den "Weg in die Schuldenfalle", da "überforderten" gesellschaftliche Transferansprüche "die Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats". Fehlt eigentlich nur noch die (im Buch dankenswerterweise nicht bemühte) rhetorische Figur von der Ausweitung des Sozialkonsums "zu Lasten zukünftiger Generationen", um die Phantasmagorie spätmodern antiwohlfahrtsstaatlicher Argumentationsfiguren komplett zu machen. Man würde sich wünschen, dass diesbezüglich weniger suggestiv argumentiert würde.

Bleibt schließlich noch eine dritte Frage, die sich heute (Ungnade der frühen Veröffentlichung!) vermutlich ganz oder jedenfalls doch deutlich anders stellt als zum Zeitpunkt der Konzeption des Bandes. Denn würde man diesen heute, im Mai 2009, schreiben, dann würde man ihn womöglich schon nicht mehr "Nach dem Boom", sondern "Nach dem Kollaps" betiteln - und damit schon wieder einen neuen Strukturbruch diagnostizieren. Genau genommen wirft dies zwei Fragen von unterschiedlicher theoretisch-konzeptioneller (und auch forschungsheuristischer) Tragweite auf. Zum einen nämlich erscheint im Lichte der jüngsten Krisenprozesse durchaus fraglich, ob der von Doering-Manteuffel und Raphael zum Epochenbegriff der Gegenwart erhobene, aber ansonsten kaum weiter bestimmte "digitale Finanzmarkt-Kapitalismus" wirklich eine stabile (sagen wir es einfach einmal paramarxistisch) Gesellschaftsformation darstellt - oder ob er nicht eigentlich schon wieder gestorben ist (was nicht bedeutet, dass die spätindustriellen Gesellschaften nicht auch mit seinem Erbe noch länger zu tun hätten). Zum anderen verweist dies auf die grundsätzliche Frage, wie weit sich die gegenwartsnahe Zeitgeschichte eigentlich in die Gegenwart vorwagen darf, ohne da zu enden, wo die Soziologie schon ist: Im Multioptionsraum ebenso flüchtiger wie riskanter Zeitdiagnosen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich heiße die Kollegen herzlich willkommen im Treibhaus historisch-soziologischer Gesellschaftsdiagnostik. Für das Treiben kluger, kreativer und kritischer Blüten ist hier allemal noch reichlich Platz.

Stephan Lessenich