sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8

Jon Latimer: 1812

Das hehre Ansinnen, eine sich selbst als kritisch verstehende Geschichtsschreibung sollte zuvorderst umfassend und objektiv sein, begegnet nicht selten grundlegenden Widerständen und Einschränkungen. Hierunter fallen zum einen das pure Wissen um historische Gegebenheiten, zum anderen deren Instrumentalisierung auch und gerade in unserer, sich der "vormodernen" Zeit anschließenden Periode.

Zu behaupten, die Geschichte wäre ein gleichmäßig beschriebenes, aus ebenso gleichmäßig gelesenen und benutzten Seiten bestehendes Buch, erschiene kühn. Als Beleg mag ein Blick etwa auf den 'War of 1812' genügen, jenen enigmatischen Waffengang, welcher außerhalb des nordamerikanischen Kontinents kaum historiographischen Nachhall gefunden hat und selbst dort nur bruchstückhaft und selektiv bekannt ist. Er trägt zu Recht nach wie vor das Etikett des "forgotten war", womit Donald Hickey vor zwanzig Jahren seine bahnbrechende Studie im Untertitel überschrieben hatte [1] - ein Krieg, von dem die US-Amerikaner lediglich wissen, dass 'man' damals die Schlacht bei New Orleans gewonnen hatte, während die Kanadier meist nur die Niederbrennung des Weißen Hauses im August 1814 in ihrer kollektiven Erinnerungskultur bewahrt haben. Die Engländer gar, immerhin einer der beiden Krieg führenden Mächte, konnten die Vorgänge um die Jahre 1812/14 gar nicht vergessen, "for they have never been known there". [2]

Und dennoch bietet dieser Krieg vielleicht wie kein zweiter ein Paradebeispiel an Überschneidung der beiden oben genannten obstacula objektiver Historie, gesellt sich doch zu dem nur rudimentären Faktenwissen eine zumal für weite Teile der - auch wissenschaftlichen - US-Rezeption nahezu unerreichte nationale Verklärung, gipfelnd in der Stilisierung zu einem «Second War of Independence». [3]

Vor diesem bewusst breit illustrierten Hintergrund ist das Erscheinen des hier anzuzeigenden Werkes von Jon Latimer zu sehen und zu bewerten, liegt doch hiermit nicht nur eine umfassende Studie zum 'War of 1812' an sich, sondern auch deren erste aus britischer Sicht seit fast 40 (!) Jahren vor. [4]

Dieses Ungleichgewicht mag mit den historischen Kriegsmotivationen Hand in Hand gehen. Während für die jungen USA der Konflikt - der erste gemäß der Verfassung vom Kongress auf Antrag des Präsidenten, James Madison, offiziell erklärte - immer den Charakter einer im besten Falle endgültigen Emanzipation vom (noch) großen europäischen Verwandten trug, konnte er für Großbritannien, das sich seit 1793 (mit Ausnahme der kurzen Friedensmonate 1802/03) in einem unbarmherzigen Überlebenskampf mit dem revolutionär-bonapartistischen Frankreich gestellt sah, niemals mehr als ein Nebenkriegsschauplatz sein. So resultierten denn die offensichtlichen Kriegsgründe auch aus dem europäischen Armageddon, dem verzweifelten Bemühen der Briten, gegenüber der französischen Dominanz auf dem Kontinent zumal die weltweite Seehoheit aufrechtzuerhalten und so die napoleonische Universalkonzeption sowohl handels- als auch militärstrategisch nachhaltig zu durchkreuzen. Dazu musste die Royal Navy das Inspektionsrecht aller Handelsflotten auf vermeintliche Konterbande auch auf hoher See ebenso beanspruchen wie jenes, desertierte und nunmehr auf ausländischen Schiffen dienende Seeleute zurückzufordern. Beides stieß verständlicherweise auf wenig Gegenliebe in der expandierenden US-Handelsmarine, welche just auch von diesen Gegebenheiten, vor allem aber auch von den lukrativen Gewinnen in einem durch gegenseitige Handelsblockade kommerziell lahm gelegten Europa profitierte.

Doch zu diesen materiellen Gravamina gesellte sich ein weiteres, entscheidenderes: die pure Präsenz der Briten in Nordamerika wurde nicht nur im Bezug auf deren enge Verbindung mit den indigenen Indianerstämmen, welche ihrerseits der Westexpansion entgegenstanden, den US-Amerikanern zum Ärgernis; auch das sich etablierende 'Manifest Destiny-Denken', wonach die USA gleichsam gottgegeben dazu bestimmt wären, den nordamerikanischen Kontinent in seiner Gesamtheit zu besitzen, erwies sich als problematisch. Hierbei standen drei Faktoren, Indianer, Spanier und Briten, im Wege, nachdem die Franzosen bereits 1763 nach dem «French & Indian War» von dieser Bühne weitgehend abgetreten waren. Das Schicksal der Ersteren ist bekannt, in zahlreichen Publikationen, in Film und Dokumentation, hinlänglich aufgearbeitet. Spaniens, beziehungsweise des Nachfolgestaates Mexiko entledigte man sich zwischen 1835 und 1848 im wenig bekannten Texanischen und dann Mexikanisch-Amerikanischen Krieg.[5] Allein die britische Präsenz in der America septentrionalis konnte man, entgegen entsprechender eindeutig so formulierter Intention 1812, nicht dauerhaft brechen.

Diese Fülle ideologischer und geistesgeschichtlicher Hintergründe macht den Reiz des Buches von Latimer aus, dem es gelingt, diese mehr oder minder bekannten Fakten nunmehr der britischen Sicht gegenüberzustellen, ohne jemals der Versuchung einer billigen Apologetik oder gar posthumen Nationalismus' zu verfallen. Im Gegenteil werden dem Leser auf 630 Textseiten ausführlich alle Komponenten des britischen Engagements in Übersee, von den politischen, wirtschaftlichen und strategischen Voraussetzungen, über die militärischen Einzelheiten der Durchführung - bis hin zu der immens spannenden Frage der Binnenseekriegsführung auf den Great Lakes, den grundlegenden Werken Malcomsons folgend -, die Handelskriegsführung, die inner-US-amerikanische Opposition gegen den Krieg, die Indianerfrage und die internationalen Verflechtungen detailgetreu, hervorragend dokumentiert und in einem nur im englischen Äquivalent des «page-turner» adäquat gekennzeichneten Stil präsentiert.

Latimer gelingt es, die besten Qualitäten der 'descriptive history' mit einer stringenten Methodik, welche klassische Fragestellungen (Strategie, internationale Diplomatie, 'battle history') und neuere (Minderheiten, Indigene, Mentalitäten) vereint, zu verbinden. Dass sich dabei die Tatsache eines eindeutigen Nichterreichens US-amerikanischer Kriegsziele ebenso als unleugbares Ergebnis des 'War of 1812' herausschält, wie die Etablierung einer kanadischen Identität - ganz entgegen dem imperial-ideologischen Anspruch Präsident Madisons -, hat nichts mit Partialität zu tun, sondern muss vielmehr als überfälliges Zurechtrücken überkommender 'Yankee-Interpretamina' gelten, wofür auch das Erscheinen in einem US-Verlag sprechen mag.[6]

Vor diesem Hintergrund kann man dem Werk Latimers bereits jetzt Standard- und Referenzcharakter zubilligen [7], nicht zuletzt deshalb, da es wenig wahrscheinlich ist, dass jemals wieder eine ähnlich ausgerichtete Studie in diesem Umfang, sowie von dieser Qualität und Seriosität erscheinen wird.

Zwar hätte es dem Band vielleicht nicht schlecht getan, mit ein paar Abbildungen und etwas mehr Skizzen, Schemata und Tabellen versehen zu werden, doch mag dieses eine kleine Manko den überaus positiven Gesamteindruck nicht nachhaltig trüben.

Jon Latimer hat mit seinem Buch eine bleibende und Maßstab setzende Darstellung geschaffen, welche, zusammen mit seiner bereits erwähnten US-amerikanischen Entsprechung aus der Feder Hickeys fürderhin sich in jedem historischen Institut, in der Bibliothek eines jeden an der Materie Interessierten, ja generell eines jeden Neuzeithistorikers befinden sollte - und sei es nur dazu, den Zeitraum - wie heute in Ausschreibungstexten standardisierend formuliert - "in seiner ganzen Breite abdecken" zu können.


Anmerkungen:

[1] Donald R. Hickey: The War of 1812. A Forgotten Conflict, Urbana/Chicago 1989.

[2] William Kingsford: History of Canada. vol. 8: 1805-1815, Toronto/London 1895, repr. New York 1968, 579; vgl. Latimer, 1812, 1, Anm. 1.

[3] Donald R. Hickey: Don't give up the Ship! Myths of the War of 1812, Urbana/Chicago 2006; A. Jack Langguth: Union 1812: The Americans Who Fought the Second War of Independence, New York 2006; vgl. die von Gary Foreman erarbeitete DVD-Dokumentation des History Channel: The War of 1812, A&E Home Video, 2005, und die darin enthaltenen Statements zahlreicher US-Historiker.

[4] Reginald Horsman: The War of 1812. London 1969.

[5] Joseph Wheelan: Invading Mexico: America's Continental Dream and the Mexican War, 1846-1848, New York 2007; John S.D. Eisenhower: So Far from God - The US War with Mexico, New York 20002.

[6] vgl. Anm. 3; gerechterweise sollte man aber auf Ausnahmen verweisen; so führt sogar das vom Office of the Chief of Military History, United States Army, herausgegebene Handbuch an: "To Great Britain the War of 1812 was simply a burdensome adjunct of its greater struggle against Napoleonic France. To the Canadians it was clearly a case of naked American aggression. But to the Americans it was neither simple nor clear. The United States entered the war with confused objectives and divided loyalties and made peace without settling any of the issues that had induced the nation to go to war"; zugänglich über http://www.history.army.mil/books/amh/amh-06.htm (5. Juni 2009).

[7] Dafür mag sprechen, dass Latimers Werk 2008 Gewinner des «Society for Military History Distinguished Book Award» im Fachgebiet «United States History» wurde, eine Auszeichnung, die auch Hickeys Werk (s. Anm. 1) 1990, neben jener des «National Historical Society Book Prize», erhalten hatte.

Rezension über:

Jon Latimer: 1812. War with America, Cambridge, MA / London: The Belknap Press of Harvard University Press 2007, xv + 637 S., ISBN 978-0-674-02584-4, USD 35,00

Rezension von:
Josef Johannes Schmid
Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Josef Johannes Schmid: Rezension von: Jon Latimer: 1812. War with America, Cambridge, MA / London: The Belknap Press of Harvard University Press 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/07/14865.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.