Rezension über:

Bärbel Kuhn / Holger Schmenk / Astrid Windus (Hgg.): Weltgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht (= HISTORICA ET DIDACTICA. Fortbildung Geschichte; 1), St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2010, 132 S., ISBN 978-3-86110-474-2, EUR 19,80
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Rezension von:
Detlev Mares
Institut für Geschichte, Technische Universität, Darmstadt
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Detlev Mares: Rezension von: Bärbel Kuhn / Holger Schmenk / Astrid Windus (Hgg.): Weltgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/18015.html


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Bärbel Kuhn / Holger Schmenk / Astrid Windus (Hgg.): Weltgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht

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Seit dem Wiedererwachen des Interesses an der Weltgeschichte ist - in den Worten Jürgen Osterhammels - "die Theorie der Praxis vorausgeeilt". [1] Um die weitgehend programmatisch geführte Debatte durch weltgeschichtliche Analysen zu konkretisieren, legte er 2009 sein monumentales Werk "Die Verwandlung der Welt" vor.

Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft insgesamt stellt sich die Lage in der Teildisziplin Geschichtsdidaktik dar: Es liegen inzwischen anregende Studien über die Notwendigkeit und das Potential einer weltgeschichtlichen Orientierung der Didaktik vor, doch fehlt es an konkreten Vorschlägen, wie das Thema in den Unterricht zu bringen sei. Erste Schritte in diese Richtung unternahm 2009 ein Workshop an der Universität Duisburg-Essen, dessen Ergebnisse in den Eröffnungsband der Reihe "Historica et Didactica" des Röhrig-Verlags eingeflossen sind.

Der Band ist gegliedert in zwei Teile - vier fachwissenschaftliche Beiträge sowie acht Unterrichtsvorschläge. Die Trennlinien zwischen beiden Teilen sind allerdings nicht so unnachgiebig gezogen, wie die Unterscheidung dies anzudeuten scheint: Auch den fachwissenschaftlichen Beiträgen sind Quellen beigegeben, auch den Unterrichtsvorschlägen gehen thematische Erörterungen voraus, wenngleich in diesem Fall stärker auf methodisch-didaktische Analysen hinführend.

Die Autorinnen und Autoren - universitär arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Lehrkräfte aus der Schulpraxis - orientieren sich an der Leitfrage, was Menschen in vergangenen Epochen voneinander wussten. Dieser wahrnehmungsgeschichtliche Zugriff entspricht insbesondere den Anforderungen des Geschichtslehrplans des Landes Nordrhein-Westfalen, lässt sich aber auch darüber hinaus mit Gewinn im Unterricht einsetzen. Thematisch werden die drei Großepochen - Alte Geschichte, Mittelalter, Neuzeit - erfasst; Ziel des Bandes ist es allerdings nicht, diese Epochen umfassend in didaktischem Gewand zu präsentieren, sondern durch ausgewählte Beispiele eine weltgeschichtliche Perspektiverweiterung im Rahmen des bestehenden Geschichtsunterrichts nahezulegen. Die fachwissenschaftlichen und die unterrichtspraktischen Beiträge sind thematisch und durch die verwendeten Materialien vielfach miteinander verflochten, können aber auch jeweils unabhängig voneinander genutzt werden.

Ein inhaltlicher Schwerpunkt des Bandes liegt auf Kulturkontakten im kolonialen und imperialistischen Kontext. Ute Schneider lenkt den Blick auf den Einsatz kolonialer - insbesondere indischer und afrikanischer - Truppen im Ersten Weltkrieg durch Frankreich und Großbritannien. Die von ihr präsentierten Bilder und Texte erlauben eine Wahrnehmungsgeschichte in doppelter Hinsicht: Zum einen enthüllen sie den zeitgenössischen Blick der Europäer auf die fremdartig wirkenden Soldaten, aber umgekehrt auch deren Erfahrungen mit "Europa", dessen kriegerische Selbstzerfleischung zur Entzauberung des Kontinents in außereuropäischen Augen beitrug; zum anderen machen Schneiders Materialien den erinnerungsgeschichtlichen Umgang mit den kolonialen Truppen zum Gegenstand der Betrachtung. Die Wahrnehmung Afrikas durch Europäer steht auch im Mittelpunkt einer Unterrichtseinheit zu Henry Morton Stanleys erster Begegnung mit dem verschollenen Missionar und Afrikaforscher David Livingstone. Dieser Unterrichtsvorschlag ergänzt einen zusätzlichen Grundlagenbeitrag von Christoph Marx zum Afrikabild europäischer Reisender aus mehreren Jahrhunderten und ist gezielt auf die Anwendung im bilingualen Unterricht hin konzipiert.

Eines der vorzüglichsten Kennzeichen des Bandes sind die ausführlichen Kommentare zu den Quellen; sie erlauben es, die Materialien auch über die Vorschläge der Begleittexte hinaus zu nutzen. Dies gilt beispielsweise für die Quellen zum Mittelalter. Der fachwissenschaftliche Beitrag zum Verhältnis von Christen und Muslimen steht unter der Überschrift "Distanz, Misstrauen und Missverständnis" und unterstreicht die oftmals intolerante Haltung des Christentums; in diesem Kontext wird die Überlieferung antiken Kulturguts durch die mittelalterlichen Klöster als Ergebnis von "Unwissen" oder "Zufall", das positive Bild einer Bewahrung aus Interesse als "Mythos" charakterisiert (62 u. 61). Dennoch eignen sich die beigegebenen Quellen ebenfalls hervorragend, um zeitgenössisches Erstaunen und Kritik über die Anpassung vieler Christen in den Kreuzfahrerstaaten an die muslimische Kultur zu diskutieren.

Nicht nur die Beschreibung, sondern auch die gediegene Aufmachung des Bandes trägt zur gelungenen Präsentation der Quellen bei. Der Verlag verzichtet auf eine oftmals übliche, unansehnliche Anhäufung möglichst vieler Materialien auf einer Seite und räumt jeder Quelle und jedem Bild eine komplette DinA4-Seite ein. Dies hätte es vielleicht sogar erlaubt, das eine oder andere Bild noch größer zu reproduzieren, um beispielsweise das Kopieren auf Folien für den Unterrichtseinsatz zu befördern. Bei manchen Texten wirkt die Großzügigkeit sogar schon übertrieben: Im umfangreichen Beitrag zum Altertum, der das gegenseitige Wissen der Menschen voneinander vom "Alten Orient" über die Griechen bis hin zur römischen Abgrenzung gegenüber den Barbaren berücksichtigt, erhält auch ein achtzeiliger Auszug aus Vitruv eine eigene Seite. Allerdings wird durch diese konsequente Umsetzung des Präsentationsprinzips eine flexible eigene Kombination der Materialien durch Lehrerinnen und Lehrer möglich.

Die Einführungstexte sind wohltuend knapp gehalten, auch wenn dies gelegentlich einen Verzicht auf die vertiefte Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur bedeutet. So wird im Beitrag zum christlich-muslimischen Verhältnis im Mittelalter Michael Borgoltes Versuch, das Bild eines rein christlichen Abendlandes in Frage zu stellen, nicht diskutiert, obwohl dieser Aspekt für die Frage nach der Wahrnehmung des Verhältnisses von Christen und Muslimen eigentlich thematisch einschlägig ist. [2] Insgesamt ist das Bestreben deutlich, Quellen nicht-europäischer Provenienz zu berücksichtigen, auch wenn die Fragehorizonte vieler Beiträge europäisch geprägt sind. Jenseits aller Debatten um "Eurozentrismen" erscheint dieses Vorgehen durchaus angemessen, denn der Band soll ja konkret in die Unterrichtswirklichkeit deutscher Schulen hineinwirken - das Ziel einer Erweiterung des herkömmlichen Unterrichts setzt diesen als Anknüpfungspunkt letztlich voraus.

Eher wie ungeliebte Pflichtübungen wirken demgegenüber manche Hinweise auf die mit Hilfe der Materialien zu erreichenden "Kompetenzen". Dies gilt beispielsweise für einen kurzen Unterrichtsentwurf zur Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter. Ausdrücklich wird bei der Verwendung eines Historienbildes aus dem 19. Jahrhundert darauf verzichtet, "die Intention des Malers mit den Schülerinnen und Schülern zu erschließen" (118), obwohl doch gerade dies im Geiste der jüngeren Kompetenzdiskussionen nahegelegen hätte.

Solche Einzelfragen können nicht die Verdienste des Bandes und die Potentiale der neuen Reihe verdecken: Diese verspricht durch die Kombination aus Einführungstexten, didaktischen Analysen sowie gut ausgewählten und kommentierten Materialien eine Fundgrube für Unterrichtsideen zu werden, die mit vertretbarem Zeitaufwand umsetzbar sind. Auf der inhaltlichen Ebene werden trotz des exemplarischen Charakters wahrnehmungsgeschichtliche Tendenzen über die Jahrhunderte hinweg sichtbar, von der antiken Abgrenzung von "Barbaren" bis hin zu den Kannibalismusphantasien neuzeitlicher Europäer, die sich während des Ersten Weltkriegs noch in der Darstellung afrikanischer Soldaten durch den deutschen Kriegsgegner finden. Vom Konzept her also der Auftakt einer vielversprechenden Reihe und inhaltlich ein anschaulich belegtes Plädoyer für eine weltgeschichtliche Erweiterung des Geschichtsunterrichts.


Anmerkungen:

[1] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 1305.

[2] Michael Borgolte: Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006.

Detlev Mares