Rezension über:

Eckart Conrad Lutz: Arbeiten an der Identität. Zur Medialität der "cura monialium" im Kompendium des Rektors eines reformierten Chorfrauenstift (= Scrinium Friburgense; Bd. 27), Berlin: de Gruyter 2010, XI + 298 S., ISBN 978-3-11-022714-7, EUR 99,95
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Rezension von:
Christine Kleinjung
Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Christine Kleinjung: Rezension von: Eckart Conrad Lutz: Arbeiten an der Identität. Zur Medialität der "cura monialium" im Kompendium des Rektors eines reformierten Chorfrauenstift, Berlin: de Gruyter 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/05/18434.html


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Eckart Conrad Lutz: Arbeiten an der Identität

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Der Mediävist Eckhard Conrad Lutz ist ausgewiesener Experte für Wissensvermittlung in volkssprachlichen und lateinischen Texten des Mittelalters. In seinen jüngsten Forschungen hat er sich vor allem auf Lese- und Erkenntnisvorgänge, die Medialität von Texten und das Verhältnis von Text und Bild konzentriert.

Das vorliegende Buch ist aus einem Forschungsprojekt zum Thema 'Medienwandel-Medienwechsel-Medienwissen. Historische Perspektiven' hervorgegangen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Medialität eines gelehrten Textes. Es geht um den Helmstedter Codex 217 der Wolfenbüttler Herzog-August-Bibliothek. Am Ende des Codex befinden sich Federzeichnungen, die Rudolf von Biberachs Tugendlehre 'De septem itineribus aeternitatis' illustrieren. Zudem hat der Kompilator sich einzelne Texte durch Diagramme erschlossen. An der Handschrift lassen sich Verarbeitungs- und Erkenntnisprozesse ablesen.

Lutz macht anhand einer Inhaltsanalyse plausibel, dass es sich bei dem Codex um ein Kompendium eines Seelsorgers der Windesheimer Reformkongregation handelt. Als Kompilator vermutet er einen Rektor und Beichtvater der Nonnen des Augustiner-Chorfrauenstifts Heiningen in Niedersachsen. In dem seit 1451 reformierten Konvent sei die Handschrift vermutlich in den Jahren von 1461 bis 1466 entstanden.

Anhand dieses Beispiels verdeutlicht Lutz die medialen Potentiale eines Textes "beim Arbeiten an einer bestimmten, Produzenten und Rezipienten verbindenden Identität" (V). Als wichtige Voraussetzung nennt er die ständige Verfügbarkeit und Erneuerbarkeit des Wissens um diese Identität. Dieser reizvolle Ansatz knüpft direkt an die historischen Forschungen zu Reformen und Schriftlichkeit, Bildung und Leseprogramm an. Für die Bursfelder und Windesheimer Kongregationen wie für die Devotio Moderna allgemein ist die Bedeutung der Handschriftenproduktion, des Buchankaufs und -austauschs im Reformprozess herausgestellt worden. Lutz geht noch einen Schritt weiter, indem er nach den Vermittlungsprozessen im Alltag, der Umsetzung in Handlungsanweisungen und der Bedeutung für das Selbstverständnis der Nonnen fragt. Er stellt die rezipierende Gemeinschaft in den Mittelpunkt, die Interaktion zwischen Seelsorger und Nonnen in den Bemühungen, die Reform zu leben.

Im ersten Teil des Buches wird das Kompendium mit seinen Zeichnungen ausführlich vorgestellt und analysiert. Lutz zieht für seine Interpretation die Schlüsseltexte des Windesheimer Reformkreises hinzu, die über die Durchführung und die konkreten Bedingungen der Reform berichten. In erster Linie sind dies Texte des Windesheimer Chronisten und Reformators Johannes Busch, der auch Heiningen reformierte; aber vor allem auch Texte, die der Einheitlichkeit der Lebensweise dienten: Statuten, liturgische Ordnungen und Gebetbücher sowie Protokolle über die Rituale, die bei der Aufnahme von Novizinnen und den Einkleidungen von Nonnen vollzogen worden sind.

Die Darstellung beginnt mit den Zeichnungen der letzten Doppelseite der Handschrift und widmet sich im Anschluss ihrer Entstehung und Ordnung. Im Hauptteil untersucht Lutz die Voraussetzungen der Konzeption der Handschrift und die Bedingungen ihres Gebrauchs. Er behandelt die Bildungsvoraussetzungen der Nonnen, ihre Beteiligung an der Liturgie, die Interaktion zwischen Klerikern und Nonnen, Handschriften aus der Hand von Nonnen sowie die Vorstellungswelt und das Selbstverständnis der geistlichen Frauen.

Um die Überlegungen nachvollziehbar zu machen, werden im zweiten Teil des Buches die untersuchten Texte zugänglich gemacht: die Diagramme und diagrammatische Federzeichnungen aus dem Kompendium, die Forma investiendi sanctimonialium, der Ordinarius aus Heiningen und Auszüge aus Buschs 'Liber de reformatione monasteriorum'. Am Ende des Bandes finden sich insgesamt 49 Abbildungen, darunter die Federzeichnungen aus dem Kompendium und die vollständige Abbildung der Handschrift über die Aufnahme der Nonnen (Forma investiendi sanctimonialium) aus Heiningen in Originalgröße.

Die Illustrationen am Ende der Wolfenbüttler Handschrift weisen exakte Stellen aus 'De septem itineribus aeternitatis' nach. Die Beischriften interpretiert Lutz als Niederschlag eines Verarbeitungsprozesses. Die Bildvorstellungen sollen zu rechtem Verhalten anregen. Entscheidend für die Interpretation ist der Personenkreis, für den die Handschrift entstanden ist. Auch für Heiningen lässt sich die Bedeutung von Bildung, Handschriftenaustausch und -produktion für die Herausbildung einer reformierten Identität gut beobachten. Es gab wohl mehrere gelehrte, lateinkundige Nonnen im Konvent und laut Ausweis von Johannes Busch haben sich die Nonnen selbst Handschriften wie den Windesheimer Ordinarius und Statuten beschafft oder sie sogar selbst abgeschrieben.

Das Selbstverständnis der Nonnen und Unterschiede zwischen einzelnen reformierten Konventen kann Lutz vor allem in der lokalen Fassung konventsinterner Texte wie Ordinarius, Manuale und Forma investiendi greifen. Die prominente Beteiligung der Nonnen an der Liturgie der Karwoche hält nur der Heininger Ordinarius fest, wie ein Vergleich mit der Windesheimer Vorlage und mit einer vergleichbaren Handschrift aus dem reformierten niedersächsischen Zisterzienserinnenkloster Medingen zeigt (49). Bei der Beschreibung der liturgischen Fußwaschung am Gründonnerstag gibt es im Heininger Ordinarius jedoch zwei unterschiedliche Fassungen; während die ältere von einer Zusammenarbeit zwischen Nonnen und Klerikern weiß, berichtet die jüngere von einer strikten räumlichen Trennung der Geschlechter.

Die von den Nonnen geschriebenen Handschriften sind aus Heiningen nicht erhalten, aber Lutz vermutet eine Mitarbeit von Nonnen an der Herstellung des Kompendiums. Häufige Begegnungen zwischen den Nonnen und ihren Seelsorgern machen schon allein die Beratungen, die laut 'Liber constitucionum' gefordert sind, nötig.

Im Aufnahmeritus zeigt sich die gleiche Vorstellungswelt wie auf den Illustrationen zu Rudolf von Biberach: Christus und der Weg zu ihm, Die Welt und der Feind und dessen Angriffe, die Tugend und die Verteidigung mit den geistlichen Waffen. In den liturgisch-rituellen Handlungen wird den Nonnen die Krone der sponsa Christi verheißen. Jeder Nonne waren diese Handlungen bekannt, sie erinnerte sie ständig und erlebte sie bei Anderen immer wieder neu.

Der Codex bietet somit ein "Monument einer identitätsbildenden informacio" (100). Lutz wertet die Handschrift als Ausdruck eines umfassenden Reformwillens, der Concepteur und Adressatinnen vereint.

Eckart Conrad Lutz hat ein anregendes, stringentes und sehr gut lesbares Buch geschrieben, das faszinierende Einblicke in die Vorstellungswelt eines reformierten Frauenkonvents des Spätmittelalters bietet. Die anschauliche Untersuchung zeigt, welche Schätze die lange Zeit verkannten Handschriften aus den Frauenklöstern bieten. Sie zeigt auch, wie wichtig es ist, weitere konventsinterne Handschriften zu finden, zu identifizieren und das Umfeld, für das sie entstanden sind, zu analysieren.

Wie gewinnbringend diese Forschungen sind, zeigen schon allein die wichtigen Ergebnisse und Impulse, die Lutz in Bezug auf die cura monialium präsentieren kann. Die Analyse der Vermittlungsprozesse und der Medialität der Seelsorge kann mit zu einer Neubewertung des Zusammenwirkens von geistlichen Männern und Frauen beitragen. Welche Rolle dabei die Reform spielt, ob Reformen überhaupt günstige Bedingungen für identitätsbildende Zusammenarbeit bieten, wird noch zu untersuchen sein - ein Vergleich mit den Reformkreisen des 12. Jahrhunderts erscheint vielversprechend.

Christine Kleinjung