Rezension über:

Anja Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972-1985. Zwischen Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 91), München: Oldenbourg 2012, X + 414 S., ISBN 978-3-486-70503-4, EUR 49,80
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Rezension von:
Douglas Selvage
BStU, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Douglas Selvage: Rezension von: Anja Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972-1985. Zwischen Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung, München: Oldenbourg 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/21517.html


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Anja Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess 1972-1985

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In den letzten zehn Jahren entstand eine Fülle von Arbeiten über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975 und deren Auswirkungen. Eine herausragende Unternehmung in diesem Bereich ist das mehrjährige Projekt des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), "Der KSZE-Prozess: Multilaterale Konferenzdiplomatie und die Folgen (1975-1989/91)", das "sowohl die multilaterale Konferenzdiplomatie als auch deren Folgen für die innere Verhältnisse in den Ostblockstaaten" thematisiert. [1] Die Doktorarbeit von Anja Hanisch, die erste Monographie aus dem Projekt, untersucht diesen Problemkreis im Falle der DDR. Hanisch schlussfolgert, dass die DDR nicht nur die von ihrer Partei- und Staatsführung gehoffte Stabilisierung durch "eine Aufwertung ihrer Souveränität und die multilaterale Sanktionierung ihrer Grenzen" im 1. Teil oder "Korb" der KSZE-Schlussakte erfuhr, sondern auch eine Destabilisierung durch die östlichen Konzessionen zur Information, zu menschlichen Kontakten und zur Erleichterung der Arbeitsbedingungen für Journalisten im 3. Korb.

Hanisch schreibt, dass "die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der SED-Führung im KSZE-Prozess" von den im Titel erwähnten Faktoren "Ostabhängigkeit, Westabgrenzung und Ausreisebewegung" "abhängig" waren (377). Nach der Darstellung von Hanisch heißt das, dass eine harte Linie der DDR in der multilateralen Konferenzdiplomatie des KSZE-Prozesses und in den Beratungen dazu in der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) praktisch überdeterminiert war. Zur "Westabgrenzung" zeigt Hanisch, wie die DDR erfolglos gegen die westdeutsche Initiative kämpfte, einen Passus über "friedliche Änderung von Grenzen" in die Schlussakte aufzunehmen, und wie sie weiter im KSZE-Prozess gegen Konzessionen in den Bereichen menschliche Kontakte und Arbeitsbedingungen für Journalisten im 3. Korb kämpfte, die die deutsch-deutsche Grenze durchlässiger machen würden. Nach der Entstehung der Ausreisebewegung in der DDR infolge der KSZE-Schlussakte opponierte die DDR noch härter gegen irgendwelche neuen Konzessionen im 3. Korb und demzufolge gegen die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses.

Die harte Linie Ostberlins führte zu Konflikten mit der oft kompromissbereiteren UdSSR, die größere entspannungspolitische Interessen im KSZE-Prozess, hauptsächlich im Bereich der "militärischen Entspannung", verfolgte. Am Ende war die "Ostabhängigkeit" der DDR für ihre KSZE-Politik entscheidend: Wann immer es Interessengegensätze zwischen der DDR und der UdSSR gab, wurden sie zugunsten Moskaus gelöst. Hanisch zeigt, wie die DDR mehrmals von sowjetischen Konzessionen an den Westen für größere entspannungspolitische Ziele überrollt wurde. Während der Madrider Nachfolgekonferenz (1980-1983) wurde "der Interessengegensatz zwischen der UdSSR und der DDR" sogar "gravierend"(264), als Moskau entschied, Konzessionen an den Westen im 3. Korb in den Bereichen Ausreise, Familienzusammenführung und Eheschließungen zu machen. Solche Konzessionen drohten die Ausreisebewegung in der DDR zu stimulieren. Nichtsdestotrotz wurden sie in das Abschlussdokument des Madrider Treffens aufgenommen. Die Versuche der DDR, solche Konzessionen durch Kritik auf verschiedenen Treffen der WVO oder durch Vorschläge für "stärkere Abstimmung" (192) abzuwenden, nützten nichts. Eine letzte Möglichkeit der DDR, ein Veto auf das entsprechende KSZE-Treffen gegen das Abschlussdokument und die in ihm enthaltenen Zugeständnisse im 3. Korb einzulegen, wurde nie wahrgenommen. Insgesamt scheint die DDR nach Hanischs Darstellung "hilflos" (274) gegenüber den Entscheidungen Moskaus gewesen zu sein. Die gut belegte Forschung von Hanisch widerlegt die Behauptung von Siegfried Kuppe, dass die DDR nach Breschnews Tod erweiterten Spielraum im KSZE-Prozess bekommen und genutzt hätte (282, 284). [2]

Das wichtigste Ergebnis von Hanischs Forschung liegt aber nicht im Bereich der Konferenzdiplomatie, sondern in den Auswirkungen des KSZE-Prozesses auf die ostdeutsche Gesellschaft. Hanisch argumentiert überzeugend, dass "die gravierendste Folge des KSZE-Prozesses" und des 3. Korbes für die DDR nicht die Bildung einer Menschenrechtsgruppe wie die Moskauer Helsinki-Gruppe oder Charta 77 war, sondern die Entstehung einer wachsenden Ausreisebewegung in der DDR. Hanischs Arbeit dient als notwendiges Korrektiv zu früheren Darstellungen, die den Menschenrechtsaktivismus in der DDR als Auswirkung der Helsinki-Schlussakte überbetonten (5-6). [3] Die Bekämpfung der Ausreisebewegung als (Teil)folge des KSZE-Prozesses vonseiten der SED, des Ministeriums des Innern (MdI) und hauptsächlich des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wird auch von Hanisch thematisiert. Obwohl die Ausreisebewegung schon von Bernd Eisenfeld grundlegend erforscht wurde [4], erklärt Hanisch umfassender, welche Aspekte der Ausreisebewegung und welche Abwehrmaßnahmen der DDR als Folge östlicher Konzessionen im KSZE-Prozess entstanden sind.

Keine menschliche Tat ist vollkommen, und es gibt die eine oder andere These in Hanischs Arbeit, die bestreitbar oder widerlegbar ist. Das ist vor allem außerhalb ihres geografischen Fokus auf die DDR der Fall. Zum Beispiel: Eine "starke Interdependenz von Außen- und Innenpolitik" war keine "Besonderheit" der DDR unter den Ostblockländern (377). Obwohl etwa die ČSSR "kein geteiltes Land" war, wurde die Gründung von Charta 77 von ihrer KSZE-Politik maßgeblich beeinflusst, und diese Gründung beeinflusste die weitere Entwicklung ihrer KSZE-Politik. Hanischs Aussagen zur sowjetischen Politik im KSZE-Prozess hätten präziser und detaillierter sein können, wenn sie mehr Gebrauch von der Literatur über Moskaus "Friedensoffensive" in Form seiner Entspannungspolitik gemacht hätte. [5]

Hanischs Doktorarbeit ist aber nur die erste Monographie aus dem schon erwähnten KSZE-Projekt des IfZ; weitere Arbeiten zu der ČSSR, UdSSR, und anderen Ländern folgen. Wenn sie die KSZE-Politik und die Auswirkungen der KSZE in ihren jeweiligen Ländern so gründlich erforschen und hervorragend analysieren wie Hanisch im Falle der DDR, wird die internationale Forschung zum KSZE-Prozess erheblich vorangebracht werden.


Anmerkungen:

[1] http://www.ifz-muenchen.de/der_ksze_prozess.html?&L=3

[2] Johannes Kuppe: Die KSZE und der Untergang der DDR, in: DA 38 (2005), 487-493, hier: 490f.

[3] Rainer Eckert: Opposition und Repression in der DDR vom Mauerbau bis zur Biermann Ausbürgerung (1961-1976), in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), 355-390, hier: 387; und Rainer Eppelmann: Brüsewitz, Biermann, KSZE und die Folgen, in: Ewald Kaiser / Gert Frei: Christen, Staat, und Gesellschaft in der DDR, Düsseldorf 1995, 6-12.

[4] Zum Beispiel: Bernd Eisenfeld: Reaktionen der DDR-Staatssicherheit auf Korb III des KSZE-Prozesses, DA 38 (2005), 1000-1008.

[5] Zum Beispiel: Udo Baron: Kalter Krieg und heisser Frieden: Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei 'Die Grünen', Münster 2003.

Douglas Selvage