Rezension über:

Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 104), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 740 S., 3 Tab., ISBN 978-3-525-56402-8, EUR 150,00
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Rezension von:
Stefan Michel
Theologische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Michel: Rezension von: Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 2 [15.02.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/02/21390.html


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Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts

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Es ist bekannt, dass der Gesang geistlicher Lieder in Kirche, Schule und Haus für die Ausbildung einer lutherischen Konfessionskultur eine unübersehbare Bedeutung hatte. Schier unendlich und variantenreich scheint die Quellenlage. Einem besonders spannenden Segment hat sich in diesem Zusammenhang Lukas Lorbeer mit seiner 2011 in Tübingen angenommenen kirchenhistorischen Dissertation zugewandt: den Sterbe- und Ewigkeitsliedern des Luthertums im 17. Jahrhundert. Die insgesamt sehr umfangreiche, gut lesbare Studie ist in drei unterschiedlich große Teile gegliedert, die von einer Einleitung und einem Schlussteil gerahmt werden.

In der Einleitung (15-31) wird der Untersuchungszeitraum auf 1591 (erstes Württembergisches Gesangbuch) bis 1706 (Cellisches Gesangbuch) eingegrenzt. Ziel ist die Ermittlung der "prägenden Vorstellungen von Sterben, Tod und ewigem Leben" (15). Dabei wird vor allem diachron auf die "Sprach- und Vorstellungswelt der Liedtexte" geachtet (23). Interessanterweise unterscheidet Verf. im späten 17. Jahrhundert nicht zwischen Orthodoxie und Pietismus, was angesichts seiner Fragestellung durchaus möglich ist. Zur Beschreibung der angetroffenen Phänomene werden linguistische Begriffe wie "Sprechakt" oder "Performanz" bemüht, ohne sie eigens zu definieren (vgl. 416, Anm. 1 - lediglich Verweis auf "Sprechakttheorie"). Gleiches gilt für den theologischen Begriff der Frömmigkeit. Bedauerlich ist, dass eine methodische oder Forschungsdiskussion mit dem "Klassiker" zu diesem Thema nicht stattfindet.[1]

In Teil A (33-166) ermittelt der Verfasser den Bestand der Sterbelieder in Gesangbüchern Württembergs, Braunschweig-Lüneburgs, Kurbrandenburgs (am Beispiel Berlins), Kursachsens (am Beispiel Dresdens und Leipzigs) und Nürnbergs, wobei es ihm nicht auf Vollständigkeit ankommt. Der Verfasser weist, ausgehend von den ältesten reformatorischen Gesangbüchern, auf die breite Verwendung dieser Lieder in Gottesdienst, Schulunterricht und Hausandacht hin. Er stellt aufgrund des guten Forschungsstandes Entwicklungslinien dar (z.B. fortschreitende Individualisierung). Am Ende kann er auf 577 Texte aus 50 Gesangbüchern für seine Untersuchung zurückgreifen. Fraglich bleibt allerdings, warum an dieser Stelle nicht auch vergleichend die konfessions- und kirchenpolitischen Kontexte der Territorien herausgearbeitet wurden, die durchaus verschiedene Akzente z.B. zwischen Württemberg und Kursachsen erwarten lassen. Insgesamt leuchtet die aufwendige Eingrenzung auf diese fünf Territorien nicht ein, zumal sie im weiteren Verlauf der Untersuchung keine Rolle mehr spielt.

Teil B (169-533) ist in acht Abschnitte unterteilt, die den "abstrahierten Ablauf eines Sterbens" abzubilden suchen (169). Verf. fragt dabei 1. "nach den Vorstellungen von Tod und Sterben, Auferstehung und ewigem Leben", 2. nach der z.B. durch die Bibel geprägten Sprache und 3. nach diachronen Aspekten (169). Entsprechend kommen die Themen "Vergänglichkeit", das Leben als "Pilgerreise und als ritterlicher Kampf", "die Todesmahnung", "die Bereitung zum Sterben", "literarische Muster für das subjektive Erleben des eigenen Todes", "christologische Aspekte des Sterbetrostes", "Abschied und Trauer" sowie "Leib und Seele" zur Sprache. Der Verfasser zeigt hier durch umfangreiche und gründliche Analysen, dass er sehr gut mit den Quellen umzugehen weiß. Gleichwohl wären an dieser Stelle Vergleiche zwischen Nord- und Süddeutschland interessant gewesen, um mögliche Unterschiede zu ermitteln. Durch die diachrone Betrachtungsweise erhält der Verfasser ein ahistorisches, weil zu homogenes Bild lutherischer Frömmigkeit. Insgesamt hätte dieser Teil durch eine gründliche Redaktion, insbesondere durch Kürzung der Quellenbelege, deutlich kompakter ausfallen können. Leider fehlt zugleich durchweg die Diskussion mit der Sekundärliteratur. Die Exegese der manchen Liedern zu Grunde liegenden Bibelstellen erfolgte vom heutigen Standpunkt. Zur historischen Erhellung hätte ein Blick in zeitgenössische Bibelkommentare oder Postillen geholfen.[2]

Schließlich untersucht Lorbeer in Teil C ( 535-636) den "Sitz im Leben des Sterbe- und Ewigkeitsliedes". Dabei unterscheidet er in vier Abschnitten das "vorausgreifende Sterbegedenken" im Kirchenjahr oder in privaten Andachten, die Situation am Sterbebett sowie beim Begräbnis. Die Hauptquellen hierfür sind Kirchenordnungen und Leichenpredigten. Allerdings erfolgte die Quellenauswahl in diesem Teil denkbar ungünstig. Statt sich auf Quellen für die fünf in Teil A ausgewählten Territorien zu beschränken (z.B. die Agenden), erweitert der Verf. seine Untersuchung jetzt noch z.B. um die Kurpfalz (562), die nun wirklich nicht lutherisch war. Weder die zahlreiche "klassische" Basisliteratur [3] noch neuere internationale Forschungsliteratur wird berücksichtigt.[4] Der Verfasser macht es sich unnötig schwer: Statt die Lieder von Valerius Herberger (545) oder Heinrich Müller (673) mit ihren einschlägigen Leichenpredigtsammlungen ("Trauerbinden"; "Gräber der Heiligen") zu kontextualisieren, zieht er die Leichenpredigtsammlung der UB Tübingen heran, die einen eigenen regionalen Schwerpunkt besitzt.

Den Band beschließt eine Bibliographie der verwendeten Gesangbücher. Die Tabelle über die Nachweise der Liedtexte (687-694) mit den Verweisen auf die einschlägigen Editionen von Wackernagel und Fischer/Tümpel ist sehr hilfreich. Das vierfache Register (Personen, Sachen, Liedanfänge, Bibelstellen) ist überaus reichhaltig und damit nützlich für die Benutzung. Die drei separat beigelegten Tabellen, die das Vorkommen der Lieder in den behandelten Gesangbüchern belegen, werden sicher von nur sehr wenigen Lesern bzw. Leserinnen benutzt werden und verteuern das Buch unnötig.

Der Band wird beworben, er sei "ein umfassendes Kompendium lutherischer Todesvorstellungen bis 1700, ihrer Entwicklung und ihrer Prägekraft für die Frömmigkeit". Dies kann nur bedingt bestätigt werden. Natürlich bietet das Buch sehr viele interessante und detailreiche Informationen, die durch eine akribische Quellenarbeit gewonnen wurden. Die fehlende Diskussion mit der Sekundärliteratur macht das Buch aber eigentlich nur für Spezialisten benutzbar, die die Ergebnisse in die Diskussionen z.B. zur Leichenpredigt, der Hymnologie oder der Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums einzuordnen wissen. Sie werden darin reiches Material zur Weiterarbeit finden.


Anmerkung:

[1] Paul Althaus: "Der Friedhof unserer Väter", Gütersloh 41948.

[2] Z.B. Johann Olearius: Biblische Erklärung, 5 Bde., Leipzig 1678-1681; Valerius Herberger: Herzpostille.

[3] Z.B. W. Reindell: Das De-tempore-Lied, Würzburg 1942 [536f.]; Chr. Bunners: Kirchenmusik und Seelenmusik, Berlin/ Göttingen 1966; J. Rautenstrauch: Luther und die Pflege der Musik in Sachsen, Leipzig 1907 [ND Hildesheim 1970]; M. Nicol: Meditation bei Luther, Göttingen 21991.

[4] Z.B. Bruce Gordon / Peter Marshall: The Place of the Dead, Cambridge 2000; Truus van Bueren: Care for the Here and the Hereafter, Turnhout 2005.

Stefan Michel