Rezension über:

Michael van Dussen: From England to Bohemia. Heresy and Communication in the Later Middle Ages (= Cambridge Studies in Medieval Literature), Cambridge: Cambridge University Press 2012, X + 217 S., ISBN 978-1-107-01679-8, GBP 55,00
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Rezension von:
Franz Machilek
Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Franz Machilek: Rezension von: Michael van Dussen: From England to Bohemia. Heresy and Communication in the Later Middle Ages, Cambridge: Cambridge University Press 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 12 [15.12.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/12/21823.html


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Michael van Dussen: From England to Bohemia

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Der im Department of English an der McGill University in Montreal (Canada) als Assistant Professor lehrende Michael Van Dussen versteht seine Untersuchung als Beitrag zu der im Rahmen der politischen und religiösen Verbindungen zwischen England und Böhmen in der Zeit des Großen Abendländischen Schismas erwachsenen "reformistischen Historiographie" (Einleitung, 1). Das Thema der vor allem mit dem Namen John Wyclifs und der Vermittlung seiner Reformideen verbundenen Beziehungen griff im 19. Jahrhundert als einer der ersten Constantin (von) Höfler unter anderem in seiner 1871 gedruckten, bis heute nicht völlig überholten Schrift "Anna von Luxemburg, Kaiser Karls IV. Tochter, König Richards II. Gemahlin, Königin von England, 1382-1394" (Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-historische Klasse 20) auf, gefolgt vor allem von Johann Loserth (1846-1936) mit seinem 1884 erstmals erschienenen Buch "Hus und Wiclif. Zur Genesis der hussitischen Lehre" (Prag/Leipzig 1884, in zweiter veränderter Auflage München/Berlin 1925) und dessen Aufsatz "Über die Beziehungen zwischen englischen und böhmischen Wiclifiten in den beiden ersten Jahrzehnten des XV. Jahrhunderts" (in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 12, 1891, 254-296). In jüngerer und jüngster Zeit bemühten sich von englischer Seite Reginald Robert Betts, Gordon Leff und Anne Hudson um die Einordnung der literarischen Verbindungen zwischen England und Böhmen in den allgemeinen historischen Kontext, von tschechischer Seite Vilém Herold und František Šmahel, in den USA zuletzt Stephen E. Lahey.

Stand bisher vor allem die Frage nach den heterodoxen Kontakten im Vordergrund, so bemüht sich Van Dussen seit einigen Jahren darum, diese Sichtweise durch Einbeziehen bislang unbenutzter Quellen um neue Aspekte zu erweitern. Drei der insgesamt fünf Kapitel der vorliegenden Publikation basieren zu größeren Teilen auf seinen, in den Jahren 2007-2009 bereits gedruckten Einzelstudien; diese fügen sich nun durchaus organisch in den in dem neuen Buch gebotenen Gesamtzusammenhang der Vermittlung reformistischer Literatur zwischen England und Böhmen in der Zeit des Schismas ein. Die Kontakte erwuchsen nach Van Dussen entgegen der bisherigen Fokussierung auf die im weiteren Verlauf erkennbaren heterodoxen lollardisch-hussitischen Erscheinungsformen in einem breiteren und weniger kontroversen Kulturaustausch zwischen England und Böhmen (5). Die mit der Gründung der Prager Universität einsetzenden Verbindungen mit den Hohen Schulen in Paris und Oxford und die gemeinsamen Anstrengungen Englands und des römisch-deutschen Reichs einschließlich Böhmens gegen das avignonesische Papsttum und dessen Anhänger während des Großen Schismas schufen wichtige Voraussetzungen für diesen Kulturtransfer, der sich weithin unreguliert (unregulated) auf vielen Ebenen, auch unter Einbeziehung Roms vollzog (3-5, 9).

Das mit "The occasion of Queen Anne" überschriebene erste Kapitel (12-36) geht wie die bisherige Forschung von der gemeinhin als Beginn der engeren englisch-böhmischen Beziehungen geltenden Heirat König Richards II. von England (1377-1399) mit Anna von Luxemburg im Jahr 1381 aus, zeigt aber vor allem am Beispiel von drei Lobgedichten auf Anna, die durch einen ungenannten Ritter von ihrem Grab in Westminster abgeschrieben und in Prag bekanntgemacht wurden (19-24), dass für die Zeitgenossen vor allem ihre Reputation als "Anglica regina" und "Femina famosa" (so die Titel der beiden ersten Eulogien) im Vordergrund standen und nicht etwaige Verbindungen zu Wyclifschen Ideen. Van Dussen ediert und kommentiert die Gedichte (davon zwei erstmals) im Appendix A (129-141). Erst durch das 1559 in lateinischer und 1563 in englischer Sprache erschienene "Buch der Märtyrer" ("Book of Martyrs") des Anglikaners John Foxe (1516-1587) und in dessen Nachfolge wurde die Verbindung zwischen Anna, der Verbreitung der Bücher Wyclifs in Böhmen und der hussitischen Reformation hergestellt (13 f. u.ö.; die Kapitelüberschrift ist daraus entnommen).

Auch hinter der weiten Verbreitung der bernhardinisch und franziskanisch beeinflussten Schriften des großen englischen Eremiten und Mystikers Richard Rolle von Hampole (1282-1349) in Böhmen steht nach den Darlegungen Van Dussens im zweiten Kapitel - "Common ground: Richard Rolle at the edges of orthodoxy in England and Bohemia" (17-62) - kein heterodoxer Hintergrund; die Handschriften gelangten zwischen den 1380iger Jahren und 1413 nach Böhmen, eine davon unter Beteiligung des Prager Erzbischofs Johannes von Jenstein (1380-1396, † 1400) über Rom (40). Die bohemikale Überlieferung der spirituellen Schriften Rolles wird von Van Dussen erstmals genau untersucht. Der Zusammenhang der dabei im Vordergrund stehenden spirituellen Interessen mit der sogenannten böhmischen Devotio moderna verdient über Van Dussens Ausführungen hinaus weitere Beachtung. Van Dussen versteht seine Analyse der Rezeption der Rolleschen Schriften in Böhmen als Hilfe zur Bestimmung der Bedeutung der textuellen Zirkulation lollardisch-hussitischer Schriften und als - ein gegenüber früherer Einschätzung - poröseres Modell von Frömmigkeit und Reform in Böhmen und England (10).

Thema der beiden folgenden Kapitel des Buches ist die heterodox bestimmte Kommunikation zwischen England und Böhmen: in Kap. 3 der seit 1406 intensiv geführte Austausch heterodoxer Schriften, die Entsendung böhmischer Kuriere nach England - als prominentester der Student Nikolaus Faulfiš in Begleitung seines Studiengenossen Georg von Kněhnice - und das Entstehen einer internationalen lollardisch-hussitischen Gemeinschaft ("Conveying heresy: texts, tidings, and the formation of Lollard-Hussite fellowship", 63-85); in Kap. 4 die Reaktion der durch das Konstanzer Konzil gestärkten römischen Kirche auf die intensiven Kontakte zwischen den Häretikern in England und in Böhmen, wobei die Berichte über den Aufstand des wegen seiner Sakramentenauffassung von der Kirche als Häretiker verdammten John Oldcastle (Lord Cobham, um 1370-1417) von 1414 besondere Berücksichtigung finden ("Ad regna et loca extranea": diplomacy against heresy, 1411-1416", 86-111).

Van Dussen steuert zu den in den Kapiteln 3 und 4 hervorgehobenen Persönlichkeiten - Nikolaus Faulfiš und Georg von Kněhnice beziehungsweise John Oldcastle - nach umfangreichen Recherchen in der handschriftlichen Überlieferung zahlreiche bislang unbekannte Quellenbelege bei. Die beiden Erstgenannten sorgten bei mehreren (nach Van Dussen mindestens drei) in hussitischem Auftrag durchgeführten Reisen nach England für autorisierte Abschriften Wyclifscher Traktate und hoben dadurch und auf Grund ihrer Kontakte in Oxford und zu Lollarden wie Robert Hoke in Braybrook und Robert Lychlade in Kemerton den Ruf Wyclifs in Böhmen (61, 68, 70-72). Jan Hus und spätere katholische und protestantische Historiographen wie Enea Silvio Piccolomini oder John Foxe hoben den Anteil der hussitischen Emissäre an der Vermittlung Wyclifs besonders hervor (79, 70). Im 20. Jahrhundert wiesen unter anderen Jan Sedlák, Johann Loserth, František Michálek Bartoš, Matthew Spinka und Reginald Robert Betts auf die wichtige Rolle der beiden hussitischen Kuriere für die Vermittlung der Wyclifschriften nach Böhmen hin. Ihnen gegenüber hatte die in Kap. 4 angesprochene Kenntnis vom Sieg König Heinrichs V. von England über den Aufstand Oldcastles für die Verfolgung des Wyclifismus in Böhmen wie auf internationaler Ebene Bedeutung. Van Dussen gibt im Anhang B zwei Berichte über den Aufstand wieder, einen bereits 1850 von dem St. Florianer Augustiner-Chorherrn Jodok Stülz (1799-1872) in den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Classe 5 (64-67) nach bisher unbekannter Vorlage edierten Text (145-148) sowie eine davon stark abweichende, aus dem Augustiner-Chorherrenstift Wittingau (Třebon) stammende Fassung (Staatliches Kreisarchiv Třebon / Státní oblastní archiv Třebon, Handschrift A 16) (143-145). Die an erster Stelle genannte Fassung gilt als eine der frühesten Nachrichten über den Aufstand überhaupt, mit letzterer scheint sich König Heinrich V. von England nach Van Dussen darum bemüht zu haben, in den Verhandlungen des Jahres 1416 mit König Sigismund über eine englisch-luxemburgische Allianz seine Position im Kampf gegen die Häresie hervorzuheben (11, 105-111). Das offizielle England hat, wie dieser Fall und andere Beispiele zeigen, zu dieser Zeit die Kontrolle über die mehrere Jahre lang von den Wyclifiten beherrschten englisch-böhmischen Kommunikationskanäle wiedererlangt.

Das den Hauptteil des Buches abschließende Kap. 5 - "The aftermath: Bohemia in English religious polemic before Foxe" (112-125) - behandelt die englische Sicht der Verbindungen Englands und Böhmens in der Periode vom Konstanzer Konzil bis zur Reformation unter König Heinrich VIII. von England (1509-1547) in den Jahren 1530-1538, mit Hinweisen zu Thomas Netter, Reginald Pecock und Thomas Gascoigne im 15. sowie Thomas More, John Clerk, Kardinal Thomas Wolsey und anderen im 16. Jahrhundert. Der Wyclifismus und seine Wirkungen auf England und Böhmen bestimmten in dieser Zeit und darüber hinaus die Vorstellungen vom Verhältnis der beiden Länder zueinander und das Bild von Häresie im Allgemeinen. In der konfessionellen Kontroverse und Polemik wurde "Böhmen" zu einem "englischen Gemeinplatz" (common place) (119-121). John Clerk nannte Böhmen "the mother and nurse of [Luther's] heresies" (122).

In einem kurzen Nachwort (126-128) blickt Van Dussen auf die von ihm dargestellte komplexe englisch-böhmische Kommunikation in der Zeit des Großen Schismas zurück und plädiert mit Blick auf seine eigenen Untersuchungen zu den Kommunikationswegen und -kanälen für eine nuancierte Annäherung an die komplexen, nicht regulären Kommunikationswege in den handschriftlichen Quellen anstelle der vielfach geübten Übernahme einfacher Modelle mittelalterlicher Textvermittlung (128).

Auf die beiden Anhänge A und B (129-156) folgen die Endnoten zu den Beiträgen (157-195), die Verzeichnisse der gedruckten Quellen und der Literatur (196-110), eine Auflistung der benutzten Handschriften (211 f.) und das Verzeichnis der Personen- und Ortsnamen (213-217).

Die inhalts- und detailreichen Untersuchungen des relativ schmalen Bandes basieren auf breiter Auswertung ungedruckter Quellen und guter Kenntnis der englischen, tschechischen und internationalen Forschungsliteratur. Nur gelegentlich fehlen Hinweise auf einschlägige Arbeiten, so etwa auf die oben bereits genannte Monographie von Constantin Höfler, auf Ferdinand Tadra, Kulturní styky Čech s cizinou až do válek husitských [Kulturelle Beziehungen Böhmens mit dem Ausland bis zu den Hussitenkriegen], Prag 1897, oder auf Katherine Walsh, Lollardisch-hussitische Reformbestrebungen in Umkreis und Gefolgschaft der Luxemburgerin Anna, Königin von England (1382-1394), in: František Šmahel (Hg.), Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 39), München 1998, 77-108. Durch die Neuinterpretation und Neueinordnung bekannter und bislang unbenutzter Quellen unter Anwendung moderner literatur- und kommunikationswissenschaftlicher Methoden zeichnet Van Dussen auf weite Strecken ein neues Bild der englisch-böhmischen Kontakte im Spätmittelalter und zwischen der hussitischen Revolution des 15. und Reformation des 16. Jahrhunderts. [1]


Anmerkung:

[1] Hingewiesen sei auch auf die ausführliche Besprechung des Buches durch Pavel Soukup in: Bohemia 54 (2014), 173-176.

Franz Machilek