Rezension über:

Mirjam Seils: Die fremde Hälfte. Aufnahme und Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Mecklenburg nach 1945, Schwerin: Thomas Helms Verlag 2012, 316 S., ISBN 978-3-940207-78-4, EUR 34,00
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Rezension von:
Michael Schwartz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Michael Schwartz: Rezension von: Mirjam Seils: Die fremde Hälfte. Aufnahme und Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Mecklenburg nach 1945, Schwerin: Thomas Helms Verlag 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 12 [15.12.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/12/22426.html


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Mirjam Seils: Die fremde Hälfte

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Mirjam Seils befasst sich in ihrer Studie nicht mit irgendeiner Region. Der zunächst vielleicht befremdlich anmutende Titel ihrer Arbeit, Die fremde Hälfte, verweist vielmehr darauf, dass deutsche oder deutschstämmige Zwangsmigranten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges knapp die Hälfte der Nachkriegsbevölkerung in Mecklenburg (-Vorpommern) gestellt haben. Die daraus resultierenden gesellschaftlichen Probleme der Versorgung, Unterbringung und allmählichen Integration von rund einer Million Menschen in einer überproportional strukturschwachen, agrarisch geprägten Region waren beträchtlich. Prozentual gesehen hatte Mecklenburg-Vorpommern (das von den sowjetzonalen Behörden schon bald wieder - aus verschleiernden Gründen - nur noch "Mecklenburg" genannt werden sollte) mehr Vertriebene bzw. (so die auf sowjetische Weisung erfolgte Sprachregelung in der SBZ/DDR) "Umsiedler" aufgenommen als jede andere Region im Nachkriegs-Deutschland. Nicht nur in der sowjetischen Zone und späteren DDR hatte Mecklenburg hier die Spitzenposition inne, sondern auch im Vergleich mit Westdeutschland.

Nun ist es nicht so, dass man über Vertriebenenaufnahme und -integration in Mecklenburg nicht bereits sehr viel wüsste. Auch wenn Seils aus begreiflichen Gründen stark die "Forschungsdefizite" (21) betont, demonstriert doch ihr knapper Forschungsüberblick und mehr noch die für ihre Arbeit verwendete Sekundärliteratur, dass hier bereits beträchtliche Vorarbeiten geleistet worden sind - nicht nur in Bezug auf die unübersichtliche Geschichte der Umsiedler-Bürokratien und der diversen Akteure von "Umsiedlerpolitik" auf Landesebene, wo neben der SED zeitweilig auch die Ost-CDU eine wichtige Rolle spielte, sondern auch zur gesellschaftlichen Entwicklung im Bereich der agrarischen "Bodenreform" und Neubauernpolitik oder im Bereich des Werftenausbaus in den Ostseestädten. Gleichwohl rechtfertigt sich Seils' Studie nicht nur dadurch, dass sie viele dieser Forschungsergebnisse bündelt und ergänzt, sondern auch durch die gezielte Vertiefung einiger bisher schwächer oder gar nicht beleuchteter Themenkomplexe. Hier ragen das Teilkapitel über "Kirchliche Integrationsbemühungen" und über den integrativen Sonderfall der Ansiedlung - bzw. Selbst-Ansiedlung - geflüchteter Volksdeutscher aus Osteuropa "in geschlossenen Gruppen" als besonders ergiebig heraus, zumal das Thema dieser volksdeutschen Gruppen in Mecklenburg nicht nur - wie sonst in Seils' Studie üblich - durch zeitgenössische Archivalien erschlossen, sondern auch durch retrospektive Befragungen einiger Zeitzeugen ergänzt wird. Freilich gab es auch hier Vorarbeiten, die allzu sehr heruntergespielt werden. Auch in anderer Hinsicht ist zuweilen der neueste Stand der Forschung nicht immer präsent: So hat sich die in Relation zum ersten Nachkriegsjahrzehnt weiterhin zutreffende Einschätzung, ab Mitte der 1950er Jahre dünne die Beschäftigung mit dem "Umsiedlerproblem" in DDR-Verwaltungsakten ganz erheblich aus, durch Erschließungsfortschritte im BStU-Archiv des früheren MfS der DDR im Laufe der letzten Jahre etwas relativiert, wovon insbesondere die neueren Arbeiten der Historikerin Heike Amos Zeugnis ablegen. Diese fehlen jedoch gänzlich in Seils' Literaturverzeichnis. [1] Auch der im Kontext der Werftverlagerung von Stettin nach Wismar erfolgte und sinnvolle "Exkurs: Stettiner" hätte noch gewonnen, wenn er neueste Forschungsergebnisse von anderer Seite einbezogen hätte. [2]

Trotz solch notwendiger Kritik bietet Seils' Arbeit insgesamt einen methodisch zwar konventionellen, aber archivalisch dicht recherchierten und zumeist zuverlässigen Überblick über ihr Thema. Nach einer kurzen Skizze über die "Ausgangslage in Mecklenburg" geht es um Umsiedlerverwaltung und Umsiedlerpolitik auf Landesebene, um "Reaktionen der Aufnahmegesellschaft", um Unterschiede der "Vertriebenenproblematik in den Städten und auf dem Land" (wobei eine stärkere Differenzierung nach Gemeindegrößen sicherlich hilfreich gewesen wäre), um den besagten "Sonderfall" volksdeutscher Gruppenansiedlung und schließlich um das Verhältnis "Vertriebene und [...] Staatssicherheit" (MfS).

Das ausführliche Kapitel zu Umsiedlerverwaltung und Umsiedlerpolitik bringt für Kenner der Materie wenig Neues. Bisher nicht informierte Leser kommen dort jedoch zuverlässig auf den Stand der Forschung, zumal Seils auch aus der Literatur gewonnene Vergleiche mit der Zentralebene oder mit anderen Ländern der SBZ immer wieder einflicht und dadurch eine isolierte Schweriner Perspektive relativiert. Wichtig erscheint die 1947/48 erfolgreiche Verdrängung der bisherigen SED-Kontrolle im Umsiedleramt durch die Ost-CDU (namentlich durch deren machtbewussten Sozialminister Friedrich Burmeister), die freilich ihrerseits bereits 1949/50 durch die SED erneut und diesmal endgültig entmachtet wurde. Angesichts dieses interessanten Sonderfalls verwundert es, dass Archivalien der Ost-CDU nicht ebenfalls herangezogen wurden. Erfreulich ist, dass Seils ihre Betrachtungen nicht bereits 1948 oder 1950 abbricht, sondern - im Gefolge neuerer Forschungen - bis etwa 1952/53 weiterführt und damit den über raschen Institutionenwandel eine Zeitlang bewahrten Netzwerkcharakter von Umsiedlerpolitik unterstreicht.

Bei der Beschreibung der "Reaktionen der Aufnahmegesellschaft" folgt Seils mit guten Gründen und Beispielen dem heute in der Forschung dominierenden Bild der Konfliktgesellschaft (Michael Schwartz) bzw. der "Kalten Heimat" (Andreas Kossert). Die Dysfunktionalität von Spendensammlungen oder lokaler "Umsiedlerausschüsse" wird ein weiteres Mal unter Beweis gestellt, ebenso wie später in einem anderen Kapitel die geringe integrative Wirkung der "Bodenreform" für Vertriebene im Bodenreform-Schwerpunkt Mecklenburg, deren Mehrheit nämlich Landarbeiter blieb und später in die Industriestandorte der DDR oder Westdeutschlands weiterzog. Verdienstvoll ist hingegen die Diskussion der religiösen Strukturbrüche und der darauf bezogenen kirchlichen Integrationsbemühungen, die offenbar bei der katholischen Kirche - obschon diese fast ausschließlich Vertriebenenkirche war - insgesamt weniger zum Verbleib in der SBZ/DDR eingeladen zu haben scheinen als im Fall der evangelischen Kirche (in der die internen Integrationsprobleme eigentlich größer waren): Jedenfalls "soll der Anteil der Katholiken unter den innerdeutschen Flüchtlingen überproportional hoch gewesen sein" (129). Auch das Kapitel zur volksdeutschen Gruppensiedlung, durch die bestimmte Dörfer zu abgeschotteten Vertriebenenmilieus wurden, bringt zwar keine grundlegend neuen Erkenntnisse, aber doch vertiefte Einblicke. Zuletzt bestätigt es die schon bekannte Einschätzung, dass die SED die politische Bedeutung dieser sozialen Abschottung und Selbstbewahrung krass überschätzt hat. Ähnliches gilt auch für das MfS-Kapitel: nichts wirklich grundlegend Neues, aber informative Einzelbeispiele - über Vertriebene als Beobachtungsobjekte oder Verfolgte des MfS, aber auch vereinzelt als Spitzel und als Hauptamtliche der DDR-Staatssicherheit.

Am Ende stellt Mirjam Seils treffend fest: "Trotz der Repressionen, der Verweigerung gruppenspezifischer Förderung und der sich nur langsam verbessernden Wohn- und Arbeitsbedingungen blieb die Mehrheit der Flüchtlinge und Vertriebenen in Mecklenburg. Die Angst vor einem erneuten Wohnortwechsel und einer ungewissen Zukunft sowie die beruflichen Aufstiegs- und Qualifikationsangebote der DDR-Gesellschaft dürften dafür die Hauptgründe gewesen sein." (275) Nach Meinung des Rezensenten muss die DDR-bezogene Integrationsforschung das gut erforschte erste knappe Nachkriegsjahrzehnt daher in Zukunft hinter sich lassen und sich der gesellschaftlichen Entwicklung ab 1950/55 viel stärker widmen - um zu erklären, warum die große Mehrheit der "fremden Hälfte" in der DDR dauerhaft geblieben und zu einem wichtigen Faktor der dortigen Gesellschaftsentwicklung bis 1989/90 geworden ist.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, München 2009; dies.: Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der DDR-Staatssicherheit 1949 bis 1989, München 2011.

[2] Vgl. Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005, Wiesbaden 2010.

Michael Schwartz