Rezension über:

Johanna M. Singer: Arme adelige Frauen im Deutschen Kaiserreich (= Bedrohte Ordnungen; 5), Tübingen: Mohr Siebeck 2016, XIV + 452 S., ISBN 978-3-16-154380-7, EUR 79,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Johanna M. Singer: Arme adelige Frauen im Deutschen Kaiserreich, Tübingen: Mohr Siebeck 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/29227.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Johanna M. Singer: Arme adelige Frauen im Deutschen Kaiserreich

Textgröße: A A A

"Bedrohte Ordnungen" ist das Thema des Tübinger Sonderforschungsbereichs 923. Dass im Rahmen ständischer Ordnungen die Zugehörigkeit zum Adel nicht automatisch materiellen Reichtum und "standesgemäßes" Leben bedeuten musste, wurde in der Forschung lange vernachlässigt. Johanna Singer rückt dieses Bild zurecht. An württembergischen und preußischen Fallbeispielen und unter Einbeziehung serieller Quellen, unter denen die Analyse von Bittgesuchen sowie die Auswertung adelsspezifischer Publikationen die wichtigsten sind, weist sie die Bedürftigkeit weiblicher Adliger im Deutschen Kaiserreich nach.

Nach einem Überblick über die recht dürftige Forschungslandschaft zu ihrem Thema fasst Singer die theoretischen Grundlagen ihrer Studien unter die drei Aspekte der Armut, der sozialen Ungleichheit und der Bedrohungskommunikation. Armut bei adligen Frauen sei, so Singer, meist relativ im Verhältnis zu den niederadligen Gesellschaftskreisen. Sie betraf fast nur ledige Frauen, die dauerhaft erkrankt waren oder unter starken gesundheitlichen Einschränkungen litten. Armut trat in fortgeschrittenem Alter der Bittstellerinnen oder ihrer Angehörigen auf und war verbunden mit Erwerbsunfähigkeit. Während in Württemberg die Berufsgruppen der Lehrerin und Erzieherin sowie der mit Handarbeit Beschäftigten dominierten, nahm in Preußen nach dem Lehrberuf die Aufgabe der Gesellschafterin den zweiten Platz ein. Ein weiterer Armutsfaktor war der Verlust der Eltern, wohingegen die Geschwister kaum eine Rolle spielten, weil von ihnen kaum Unterstützung zu erwarten war. Für die meisten adligen Frauen gilt, dass sie ihre bescheidenen Einkommen nur durch eine Mischfinanzierung erhalten konnten.

Die Armutsursachen sind in erster Linie geschlechtsbezogen. Armut betraf fast überwiegend Frauen. Entweder reichte die Witwenrente nicht dazu aus, den Lebensunterhalt zu bestreiten, oder es handelte sich um ledige Frauen, die nicht durch Heirat "versorgt" werden konnten. "Ledigenstatus und Bedürftigkeit bildeten dabei eine Art Teufelskreis." (152) Auch die Berufsmöglichkeiten waren lange Zeit eingeengt. Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde in adligen Kreisen Büroarbeit als Telefonistin oder Sekretärin als Option akzeptiert. Von ihren Herkunftsfamilien konnten die Frauen hingegen kaum Unterstützung erwarten. Durch die Einrichtung von Fideikommissen ging das Erbe an den erstgeborenen Sohn über, der sich mit der Gründung einer eigenen Familie der finanziellen Solidarität mit den Geschwistern zu entziehen wusste. Weitere Armutsrisiken waren Unfall, Behinderung und Krankheit, zu der auch die zeittypische "Nervosität" gehörte. Im Sinne einer "life cycle poverty" konnten deshalb sowohl Lebensphasen als auch besondere Ereignisse das Armutsrisiko bedrohlich werden lassen.

Die Möglichkeiten zur Bewältigung der Armut waren begrenzt. Eher als Fürsprecher und Hilfe bei der Abfassung von Bittschriften zeigten sich familiäre und soziale Netzwerke. Wenn die Frauen in ihren Kernfamilien aufgenommen waren, wurde das Armutsrisiko weitgehend gemildert. Das galt schon nicht mehr für weitere Verwandtschaft, ebenso wie für Freunde und Bekannte, denen "eine eher untergeordnete Bedeutung" (248) zukam. Eine zentrale Rolle kam den staatlicherseits geförderten Damenstiften zu. In Württemberg vergab der König für das Stift Oberstenfeld Präbenden, die an die Zugehörigkeit zum Adel geknüpft waren. Hinzu konnten in Einzelfällen Gnadenunterstützungen in besonderen Fällen treten. Für Preußen konnte Singer 83 Damenstifte nachweisen, die jedoch im Einzelnen noch zu untersuchen sind. Sie wurden aus königlichen, landesherrlichen und zweckbezogenen Stiftungen (wie der Hannoverschen Klosterkammer) finanziert. Weitere staatliche und private Stiftungen ergänzten das Tableau, zu dem noch Stiftsschulen und Erziehungsanstalten zu rechnen sind. Als kleines Zeichen der Standessolidarität - von Singer ausdrücklich mit einem Fragezeichen versehen - sind für Württemberg die Zuwendungen des St. Georgenvereins der württembergischen Ritterschaft und eine Präbendenstiftung der Königin Olga für bedürfte adlige Frauen sowie für Preußen der Nobilitas-Verein, der Zentralhilfsverein der Deutschen Adelsgenossenschaft sowie die Frauenschule in Löbichau zu erwähnen.

Die Betroffenen sahen sich dem Dilemma ausgesetzt, in Bittgesuchen ihre Bedürftigkeit zu beschreiben, wegen der Nachprüfbarkeit dabei die Wahrheit nicht zu überdehnen und ihre Standeswürde zu wahren. Für die Behörden war neben der Bedürftigkeit "ein moralisch einwandfreier Lebenswandel und der Nachweis des Versuchs, aus eigener Kraft für sich zu sorgen" (365) unabdingbar. Die Standesgenossen zeigten, wie die Stichproben aus dem "Deutschen Adelsblatt" zeigen, wenig Interesse an den bedürftigen adligen Frauen. "Solange eine gewisse Untergrenze nicht unterschritten wurde, keine unter(klein)bürgerlichen oder moralisch fragwürdigen Verhältnisse erreicht waren", wurden die armen Frauen als Adlige akzeptiert.

Adel und Armut zeigen sich in der Untersuchung von Johanna Singer nicht nur als ein Einzelphänomen, sondern weisen auf die Differenzierung der Gesellschaft des Kaiserreichs hin, die sich nicht mehr entlang alter ständischer Ordnungen vollzieht, sondern den Kategorien von Ausbildung, Berufstätigkeit und Leistung unterworfen ist. Es ist das Verdienst der Autorin, diese Bedrohung scheinbar fester Ordnungen anschaulich gemacht zu haben.

Joachim Schmiedl