Rezension über:

Gerhard Henke-Bockschatz: Oral History im Geschichtsunterricht, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, 141 S., ISBN 978-3-89974-889-5, EUR 14,80
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Rezension von:
Christian Kuchler
Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, RWTH Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Christian Kuchler: Rezension von: Gerhard Henke-Bockschatz: Oral History im Geschichtsunterricht, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/04/30279.html


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Gerhard Henke-Bockschatz: Oral History im Geschichtsunterricht

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Im Bereich der geschichtsdidaktischen Literatur zählt die Reihe "Methoden historischen Lernens" zu den bereits besonders lang etablierten Publikationsformaten. Umso überraschender ist es, dass sich bislang kein Band der Methodenreihe mit dem für die Unterrichtswirklichkeit so bedeutsamen Thema der Zeitzeugengespräche beschäftigt hat. Diese Lücke schließt nun die Monographie des Frankfurter Geschichtsdidaktikers Gerhard Henke-Bockschatz. In sehr überzeugender Form zeigt er auf, welche Potentiale sich aus der Integration von Oral History in den Geschichtsunterricht schöpfen lassen.

Nach einer kurzen Einleitung legt er zunächst die Argumente vor, die für den Einbezug von Zeitzeugen in den Geschichtsunterricht sprechen. Besonderen Wert legt er dabei auf den Kontakt von Schülerinnen und Schülern mit älteren Menschen, die ihre Lebenserfahrung beziehungsweise ihre Lebensgeschichte mitteilen können. Dies sei deshalb sehr bedeutsam, weil auch im familiären Umfeld Lernende auf diesem Weg mit "Geschichte" in Berührung kämen. Daneben streicht Henke-Bockschatz die Öffnung der Schule, die außergewöhnlichen Möglichkeiten für projekt- und handlungsorientierten Unterricht sowie den Erwerb von Medienkompetenz, im Sinne einer Dekonstruktion der Figur des Zeitzeugen in Film und Fernsehdokumentationen, heraus. Zugleich verschweigt er aber nicht die Probleme und Gefahren, die der Einbezug von Zeitzeugen im Unterricht bereiten kann. Gleichwohl kommt Henke-Bockschatz zu dem Schluss, dass die Vorteile die potentiellen Probleme deutlich überwiegen und gewichtet vor allem die erzählte Familiengeschichte als relevant.

Dieser grundsätzliche Einstieg mit dem Blick auf die Vor- und Nachteile der Oral History im schulischen Kontext überrascht auf den ersten Blick. Gemeinhin steht er eher am Ende der Reflexion über die Praxistauglichkeit spezifischer Methoden des historischen Lernens. Ganz bewusst greift der Autor aber bereits am Beginn seiner Abhandlung jene Vorbehalte gegenüber dem Kontakt mit Zeitzeugen auf, die häufig in Schulen anzutreffen sind. Er versucht also, mit seinem schmalen Band, die potentiellen Leser (schulische Lehrkräfte, aber auch Studierende) dort abzuholen, wo sie sich befinden.

Neben der rein wissenschaftlichen Erschließung der Oral History bezieht sich der Band vor allem auf die mediale Geschichtskultur und die Bedeutung, die Zeitzeugen in ihr zugemessen wird. Erst im Anschluss an die grundsätzliche Erörterung kommt Henke-Bockschatz auf den Status und die von ihm sogenannte "Karriere von Zeitzeugen" zu sprechen. Hier zeichnet er die historische Entwicklung von Zeitgenossen zu medial vielfach präsenten "Beglaubigern" von Geschichte nach. Wie also der Zeitzeuge vom Feind jeglicher objektiver Geschichtswissenschaft zunächst in der Zeitgeschichtsforschung zu einer etablierten Quelle wurde und im Nachklang dann auch seine Stellung für das historische Lernen im schulischen Unterrichten erreichte, wird überzeugend dargestellt. An diese Ausführungen knüpft ein kulturwissenschaftlich orientiertes Kapitel "Erinnerung und Gedächtnis" an, ehe der Autor dann ganz konkret mit dem Blick auf die Schule die mündliche Erinnerung als Gegenstand des Geschichtsunterrichts thematisiert.

Dieses umfangreichste Inhaltskapitel ist es denn auch, das den vorliegenden Band für den Unterrichtsalltag attraktiv macht. Henke-Bockschatz geht sehr klar darauf ein, wie Oral History als Prozess im Unterricht schrittweise umgesetzt werden kann und zeigt eine Typologie von Themen auf, die über das klassische Einladen von Zeitzeugen zu Nationalsozialismus oder Holocaust hinausgeht. Umfangreich und kundig sind zudem die Ratschläge, wie die Auswahl der Gesprächspartner zu erfolgen hat, welche Vorbereitung von Seiten der Lehrkraft sowie der Schülerinnen und Schüler getroffen werden sollte und wie das Interview selbst zu gestalten ist.

Nach Hinweisen zur Transkription und Archivierung der Unterredungen schließen sich vielfältige Anregungen für unterschiedliche Arrangements von Zeitzeugeneinsatz im Unterricht an. Schwerpunkt dieser Ausführungen ist die Diskussion, ob auch gefilmte Zeitzeugengespräche mit Interviewpartnern, denen eine Anreise nicht möglich ist oder die bereits verstorben sind, zu historischem Lernen anregen können. Hier schließt sich auch die Problematisierung von Zeitzeugen in Medienprodukten an, wie sie vornehmlich durch die Sendungen der ZDF-Zeitzeitzeugenredaktion auch einem Millionenpublikum bekannt sind. Gerade diese Formate in den Geschichtsunterricht zu integrieren, könne ertragreich sein, da hier nicht nur inhaltliche Aspekte diskutiert, sondern zudem auch eine formale Analyse des Umgangs mit Zeitzeugen im medialen Umfeld durchgeführt werden kann, so Henke-Bockschatz.

Abgeschlossen wird der Band mit einem sehr umfangreichen und kommentierten Verzeichnis von Internetadressen, unter welchen entweder abgeschlossene Videos heruntergeladen oder aber auch klassische Zeitzeugenbesuche für den Unterrichtsbesuch vereinbart werden können. Zusammen mit weiteren Materialien zur schulischen Implementierung von Oral History ist gerade der Apparat am Ende des Buches eine Schatzkiste für Lehrende. Hier können nicht nur Kolleginnen und Kollegen an Schulen zahlreiche unterrichtspraktische Hinweise erhalten, sondern auch die zeitgeschichtliche und geschichtsdidaktische Lehre an der Universität kann sich hier Basisinformationen zur Akquise von Interviewpartnern und hochwertigen, digital verfügbaren Zeitzeugengesprächen erschließen.

Der vorliegende Band umreißt also das Feld der Oral History sehr kompakt und gibt einen verlässlichen Einblick in die Umsetzung in Bildungskontexten. Grundsätzlich neue Erkenntnisse zur Arbeit mit Zeitzeugen sind von ihm nicht zu erwarten, dafür wird eine Methode des historischen Lernens komprimiert und anregend dargestellt. Der vorliegende Band ergänzt also die Reihe "Methoden des historischen Lernens" um ein wesentliches Element und regt zur Nutzung von Oral History in den unterschiedlichsten Lernkontexten an.

Christian Kuchler