Rezension über:

Christian Zumbrägel: "Viele Wenige machen ein Viel". Eine Technik- und Umweltgeschichte der Kleinwasserkraft (1880-1930) (= Geschichte der Technischen Kultur; Bd. 5), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 351 S., 2 Farb-, 43 s/w-Abb., 3 Kt., ISBN 978-3-506-78746-0, EUR 69,00
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Rezension von:
Ute Hasenöhrl
Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Ute Hasenöhrl: Rezension von: Christian Zumbrägel: "Viele Wenige machen ein Viel". Eine Technik- und Umweltgeschichte der Kleinwasserkraft (1880-1930), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 1 [15.01.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/01/32049.html


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Christian Zumbrägel: "Viele Wenige machen ein Viel"

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Wasserkraft gilt heute als wichtiger Pfeiler der "grünen Energiewende" - ein regenerativer, "sauberer" Energieträger, der ständig neu von der Natur bereitgestellt wird und daher quasi unbegrenzt zur Verfügung zu stehen scheint. Die Nutzung der sogenannten "weißen Kohle" hat eine lange Tradition. Zur Elektrizitätserzeugung wird die kinetische Energie des Wassers seit den 1880er Jahren genutzt: 1880 wurde das erste Wasserkraftwerk der Welt im englischen Northumberland in Betrieb genommen, bereits 1896 entstand an den Niagarafällen in den USA das erste Großkraftwerk der Welt. Unumstritten war (und ist) diese Form der Energienutzung freilich nicht. Bereits um die letzte Jahrhundertwende protestierte die Natur- und Heimatschutzbewegung gegen eine "Verschandelung" der Landschaft (z.B. in Deutschland 1904 bis 1914 gegen das Kraftwerk Laufenburg am Rhein). Auch die ökologischen Folgen der mit der Wasserkraft verbundenen Eingriffe in den Wasserhaushalt - und nicht zuletzt die speziell mit Großprojekten oft einhergehenden Umsiedelungen lösten immer wieder Widerstand aus.

Die Technik- und Umweltgeschichte hat diese Entwicklungs- und Protestgeschichte der Wasserkraft bereits mehrfach nachgezeichnet. [1] Insbesondere die großen Dammbauten des 20. Jahrhunderts haben immer wieder große Aufmerksamkeit gefunden. [2] Mit ihrem Fokus auf hydroelektrischen Großanlagen und den "large technological systems" (Hughes) der Energie- und Elektrizitätsversorgung [3] folgten diese Arbeiten oft einem auf technische Innovationen, ihren Triebkräfte und Folgen ausgerichteten Fortschrittsnarrativ. In seiner 2016 am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt eingereichten und 2018 im Schöningh-Verlag erschienenen Dissertationsschrift zur Technik- und Umweltgeschichte der Kleinwasserkraft grenzt sich Christian Zumbrägel explizit von einer "Neuigkeitsgeschichte" der Technik ab und rückt stattdessen die Beständigkeit - aber auch die Anpassungsfähigkeit - traditioneller Technologien in den Mittelpunkt. Anknüpfend an David Edgertons Klassiker "The Shock of the Old" von 2006 [4] möchte Zumbrägel vor allem das Verhältnis von Alt und Neu im Technikfeld der Wasserkraft neu ausloten. Am Beispiel des Bergischen Lands und des Sauerlands zwischen 1880 und 1930 nimmt er einerseits den Technikgebrauch der Wasserkraftanwender ("technology-in-use"), andererseits aber auch "inkrementelle[n] Innovationsschritte[n]" (33) und technische Hybridformen in den Blick. Ein spezieller Fokus liegt dabei auf Wasserrädern als nur vermeintlich vorindustriellen Techniken.

Der Autor rekonstruiert in seiner Arbeit akribisch die Handlungspraktiken, Wissensbestände und Expertenkulturen der Wasserrad- und Turbinenbetreiber - und sucht dabei auch energiewirtschaftlichen Routinen auf die Spur zu kommen, die als "working" oder "tacit knowledge" der Anwender nicht systematisch verschriftlicht wurden. Zumbrägel hat hierfür eine beeindruckende Quellenvielfalt in lokalen Archiven und Bibliotheken ausfindig gemacht und ausgewertet: von Ingenieursdarstellungen, technischen Ratgebern und Leitfäden über Unterrichtsmaterialien der Gewerbeschulen, Werbebroschüren und Nachlässen der Gewerbetreiber bis hin zu den Verbandszeitungen der Kleinwasserkraft- und Mühlenvereine und schließlich der physischen Landschaft selbst. Letztere bildet nicht nur einen wichtigen Gedächtnis- und Erinnerungsspeicher, sondern nahm mit ihren spezifischen Umweltdynamiken auch ihrerseits Einfluss auf die Konfiguration des "envirotech-Ensemble Wasserkraftanlage" (50).

Zumbrägels Studie "Viele Wenige machen ein Viel" ist in zwei Großkapitel untergliedert. Im ersten Teil analysiert er übergreifende "Diskurse, Praktiken und Techniken zwischen Groß- und Kleinwasserkraft", im zweiten Teil steht die "Grüne Kohle der bergisch-märkischen Mittelgebirge" als konkrete Fallstudie im Mittelpunkt - seit der Frühen Neuzeit ein Zentrum des deutschen Metallgewerbes, das von kleinindustriellen Strukturen geprägt war. In beiden Kapiteln akzentuiert Zumbrägel das spannungsreiche Mit-, Gegen- und Nebeneinander von (alten) Wasserrädern und (neuen) Wasserturbinen. Wie der Autor herausarbeitet, entsprach das in der Historiographie häufig anzutreffende Narrativ vom Niedergang der vermeintlich so rückständigen Wasserräder und dem parallel proklamierte Aufstieg der Turbinentechnik zwar durchaus der Vorstellungswelt der diskursprägenden Ingenieure, nicht aber den Verhältnissen in den deutschen Mittelgebirgen. Bis in die Zwischenkriegszeit hinein waren die meisten Bäche und kleineren Flüsse weiterhin mit Wasserrädern gesäumt - und diese leisteten einen erheblichen Beitrag zur Gesamtenergieerzeugung aus Wasserkraft. Wasserräder waren keine bloßen Relikte der Vergangenheit, sondern wurden von Mühleningenieuren und Wasserradbetreibern kontinuierlich weiterentwickelt. Mitunter inspirierten sich Turbinen und Wasserräder auch gegenseitig. Neues knüpfte an Bestehendes an, vereinzelt kam es sogar zu Konstruktion von Wasserrad-Turbine-Hybriden wie der 1903 zum Patent angemeldeten Hydrovolve oder den am Poncelet-Wasserrad angelehnten Durchströmturbinen.

Wasserräder sind für Zumbrägel Beispiele von "appropriate technology". Als über lange Zeit erprobte Antriebe waren sie oft besonders gut an die jeweiligen Gewässerverhältnisse angepasst. Die Anwender konnten mit Wasserrädern flexibler auf schwankende Wasserzuflüsse reagieren, sie waren bei hohem Sedimentfluss und Wasserverschmutzung weniger störanfällig, ließen sich mit Erfahrung und Geschick selbst warten und reparieren und erforderten meist keine hohen Investitionen mehr. Manche Kleingewerbetreibende kehrten sogar zu ihren alten Wasserrädern zurück, wenn sich die hohen Erwartungen in die neue Turbinentechnik nicht erfüllten. Wie Zumbrägel am Beispiel der Fuelbecker Talsperre zeigt, war auch die Errichtung "moderner" Talsperren nicht zwangsläufig mit einer Umstellung auf Turbinentechnik verbunden - in diesem Fall diente der genossenschaftlich errichtete Wasserspeicher dazu, für das traditionelle Gewerbe einen ausreichend hohen Wasserfluss sicherzustellen. Zu einer flächendeckenden Verdrängung der Wasserräder kam es im Bergischen und Sauerland erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die überregionalen Verbundnetze selbst die entlegensten Täler erreicht hatten und sich die Gewerbestrukturen stärker zu zentralisieren begannen.

Zumbrägels gewissenhafte, materialreiche und argumentationsstarke Studie zur Geschichte der Kleinwasserkraft im Bergischen und Sauerland sensibilisiert damit "für die Beharrungskräfte, die auf den Seitenwegen der wirkmächtigen Pfade der Energiegeschichte wirksam waren" (293). Sie hebt die Bedeutung der lokalen "agency" der Technikanwender hervor, zeugt aber auch von der Vetokraft der naturräumlichen Verhältnisse. Zumbrägel verschweigt auch das "Sündenregister der Grünen Kohle" (209) nicht. Bereits die kleinteilig-dezentrale Nutzung der Wasserkräfte zog eine spürbare Technisierung der Flusslandschaften nach sich und war zum Teil mit erheblichen Konflikten zwischen den einzelnen Nutzern am Fluss verbunden (v.a. bei der Aufstauung und Absenkung des Wasserspiegels). Trotz gewisser Überschneidungen und Wiederholungen zwischen den Kapiteln leistet Zumbrägel damit einen wichtigen Diskussionsbeitrag zur technik- und umwelthistorischen Debatte um "technologies-in-use", zu technischer Innovation und Beharrungskraft sowie den (Eigen)Dynamiken und Wechselwirkungen im envirotech-Ensemble Wasserkraft - und trägt damit konzeptionell wie empirisch zur Annäherung der Technikgeschichte an die moderne Umwelt- und Energiegeschichte bei.


Anmerkungen:

[1] Exemplarisch: David S. Landes: The unbound Prometheus. Technological change and industrial development in Western Europe from 1750 to the present, Cambridge 1969; David E. Nye: Electrifying America. Social meanings of a new technology, Cambridge, MA 1990; Sara B. Pritchard: Confluence. The nature of technology and the remaking of the Rhône, Cambridge, MA 2011.

[2] Z.B.: Julia Tischler: Light and power for a multiracial nation. The Kariba Dam scheme in the Central African Federation, New York 2013; Hanna Werner: The politics of dams. Developmental perspectives and social critique in modern India, New Delhi 2015; Erik Swyngedouw: Liquid power. Water and contested modernities in Spain, 1898-2010. Urban and industrial environments, Cambridge, MA 2015.

[3] Thomas P. Hughes: Networks of power. Electrification in Western society, 1880-1930, Baltimore 1983.

[4] David Edgerton: The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900, London 2006.

Ute Hasenöhrl