Rezension über:

Anna Rothfuss: Korruption im Kaiserreich. Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914, Göttingen: V&R unipress 2019, 376 S., 3 Farb-, 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0960-0, EUR 50,00
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Anna Rothfuss: Korruption im Kaiserreich. Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914, Göttingen: V&R unipress 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 3 [15.03.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/03/33828.html


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Anna Rothfuss: Korruption im Kaiserreich

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Der Titel gibt das Anliegen der Arbeit nicht vollständig wieder. Es geht nicht allgemein um "Korruption im Kaiserreich". Die einzelnen Skandale kennt die Forschung bereits. Der Untertitel trifft das Thema genauer: "Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914". Denn die Debatten werden zentral behandelt und dazu erfährt man viel Neues. Aber sie zu erforschen und darzustellen ist nicht Selbstzweck. Die Dissertation (TU Darmstadt, 2017) will sie unter mehreren Fragestellungen untersuchen. Auf nur zwei, allerdings zentrale Fragestellungen soll hier näher eingegangen werden.

Eine lautet: Wie werden über Korruptionsskandale politisch-gesellschaftliche Normen ausgehandelt? Denn das Normengefüge, was als korrupt angesehen wurde, ist wie jedes Normengefüge historischen Veränderungsprozessen unterworfen. Von besonderem Problembewusstsein der Verfasserin zeugen hier die begriffsgeschichtlichen Erläuterungen, die sie an den Anfang ihrer Arbeit stellt. Denn mit der Veränderung der Korruptionsbeurteilung geht auch eine Veränderung des Inhaltes des Begriffes Korruption einher. Der Begriff "korrupt" bezog sich nicht immer nur eng auf Bestechung und Bestechlichkeit, sondern war ursprünglich weiter gefasst und betraf Sittenverderbnis ganz allgemein. So konnte auch Sexualverhalten "korrupt" sein.

Diese Aushandlung, was nun schließlich als korrupt angesehen wurde, ist Thema, angefangen vom Skandal wegen der Vergabe der so lukrativen preußischen Eisenbahnkonzessionen 1873 bis hin zum Kornwalzerskandal 1913. Bei der Vergabe der Eisenbahnkonzessionen ging es darum, dass nicht nur sachliche Gesichtspunkte ausschlaggebend waren, sondern Nähe zu hochgestellten Persönlichkeiten, welche u. a. die Trassenführung zu ihrem Vorteil beeinflussten. Besonders ins Visier geriet Hermann Wagener, Mitbegründer der preußischen Kreuzzeitung, Berater Bismarcks, Erster Rat im Staatministerium und Gesellschafter der Pommerschen Centralbahn. Niemand anderes als Eduard Lasker warf Wagener vor, seine politische Stellung bei der Vergabe von Eisenbahnkonzessionen zu persönlichem Vorteil umgemünzt zu haben. Wagener wurde zwar verurteilt. Aber in der Debatte zeigte es sich, dass es auch Stimmen gab, welche die Vermengung von Amt und Vorteil gar nicht so skandalös fanden, insbesondere in antisemitischen Kreisen (Lasker stammt aus einer jüdischen Familie.) Erst nach diesem Skandal galt ein Verhalten wie das von Wagener eindeutig als korrupt.

Der Kornwalzerskandal 1913 gegen Ende des Kaiserreiches zeugte davon, dass zu einem richtigen Skandal mehr gehörte als nur der Vorgang. Der "Bureauvorsteher" für Berlin der Firma Krupp knüpfte Kontakte zu mindestens acht Personen der Heeresverwaltung, die er zum Essen einlud und denen er andere kleinere Gefälligkeiten zukommen ließ, die gar nicht in direktem Zusammenhang mit Informationen standen (Weihnachtsgeschenke ohne großen Wert, Andeutung von Karriereperspektiven in der Wirtschaft) und erhielt interne Informationen über Beschaffungsabsichten und Angebote der Konkurrenz. Die Berichte an Krupp trugen dann den Decknamen "Kornwalzer".

Doch von Regierungsseite versuchte man, die Bedeutung herunterzuspielen. Die Firma Krupp ging weitgehend unbeschadet aus dem Skandal hervor, und die betroffenen Angeklagten wurden nur zu geringfügigen Strafen verurteilt. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass es Karl Liebknecht war, der den Skandal publik gemacht hat. Und damit sind wir bei einer weiteren zentralen Fragestellung der Arbeit: Wie wurden Skandal instrumentalisiert und für wen waren mit der Skandalisierung politische Vorteile verbunden? Hier weist Rothfuss nach, dass es nicht der Skandal als solcher war, der zu einer gelungenen Skandalisierung führte, sondern die jeweilig dahinterstehenden Interessen und ihre Vertreter, so dass so mancher Skandal schon deswegen ohne Resonanz blieb. Und so sind für eine gelungene Skandalisierung nicht der Sachverhalt oder gar Prinzipien von Bedeutung, sondern das alte "Cui bono": Wem ein Skandal nützt und wie stark die Kräfte in der Öffentlichkeit sind, um einen Skandal zur vollen Reife zu entwickeln oder ihn in das politische Abseits versinken zu lassen.

Dies anhand einer Fülle von Skandalen bzw. skandalträchtigen Vorgängen, die dann aber zu keinem richtigen Skandal geführt haben, im Einzelnen dargestellt und analysiert zu haben ist das Hauptverdienst der Arbeit. Methodisch kann man die Arbeit in die Rubrik "Diskursanalyse" einordnen. Der Begriff wird in der Dissertation, wenn überhaupt, dann nicht zentral verwandt und doch beschreibt er gut, worum es geht. Das Reden über einen Gegenstand konstituiert den Gegenstand, hier den Skandal. Und über Skandale geredet wird an den zentralen Orten: Presse, Parlament und Gerichtssaal. Und so fokussiert sich die Arbeit genau auf diese Stätten der zunehmend wichtiger werdenden öffentlichen Kommunikation. Damit ist eine wichtige Quellenbasis der Arbeit beschrieben.

Ein zentraler Aspekt der Arbeit ist indes überhaupt nicht durch den Titel abgedeckt. Es geht nicht nur um Korruptionsdebatten im Kaiserreich. Die gleichen Fragestellungen trägt Rothfuss recht ausführlich an die Korruptionsdebatten in Frankreich heran, vergleicht Frankreich und Deutschland, stellt Ähnlichkeiten und Unterschiede heraus und analysiert auch die Bedeutung der großen französischen Korruptionsfälle (z.B. des Skandals der Dekorationen, des Panamaskandals) für die Skandalisierungsgepflogenheiten im Kaiserreich, einerseits im Sinne von Nachahmung politischer Instrumentalisierungsmöglichkeiten, aber dann auch, wie französische Skandale in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden: das Bild von der Republik Frankreich im Kontrast zu einem deutschen Selbstverständnis, über das "bessere" monarchische System zu verfügen. Auch hierzu gibt es eine Fülle ähnlich tiefgehender Analysen.

Der Arbeitstitel der Dissertation könnte so lauten: Korruption, was dafür gehalten wurde, wie die Korruptionsdebatten initiiert und dann interessengeleitet mit wechselndem Erfolg politisch instrumentalisiert wurden. Deutschland und Frankreich in Vergleich und Wechselwirkung von 1871-1914. Fazit: Eine umsichtig angelegte, Fragestellungen geleitete Dissertation, die geeignet ist, der Forschung Impulse zu geben zu einem Thema, das nicht nur Historiker interessiert: Wie ruft man Skandale hervor und wie lassen Skandale sich nützen zu politischem Vorteil?

Manfred Hanisch