Rezension über:

Hans-Christof Kraus (Hg.): Fritz Hartung. Korrespondenz eines Historikers zwischen Kaiserreich und zweiter Nachkriegszeit (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 76), Berlin: Duncker & Humblot 2019, XIV + 889 S., ISBN 978-3-428-15731-0, EUR 119,90
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Rezension von:
Heinz Duchhardt
Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Heinz Duchhardt: Rezension von: Hans-Christof Kraus (Hg.): Fritz Hartung. Korrespondenz eines Historikers zwischen Kaiserreich und zweiter Nachkriegszeit, Berlin: Duncker & Humblot 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 3 [15.03.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/03/33916.html


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Hans-Christof Kraus (Hg.): Fritz Hartung

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Fritz Hartung war für Generationen von Geschichtsstudenten ein Begriff: seiner Deutschen Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart wegen, die seit ihrer Erstveröffentlichung (1914) über ein halbes Jahrhundert hinweg sieben weitere (mehrmals neubearbeitete) Auflagen erlebte. Aber es gab viel mehr Gründe als nur den, dass es sich um einen renommierten und vielseitigen Historiker handelte, eine Auswahl seiner Korrespondenz zwischen der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts und 1964 in Angriff zu nehmen. Nein, es war sein Lebensweg bis in das geteilte Deutschland hinein, der ihn aus der Kohorte seiner Kollegen heraushob und ihn zu einem "Wanderer zwischen zwei Welten", einem "Grenzgänger" machte.

Hartung, 1883 mehr zufällig in Saargemünd geboren, war und blieb zeitlebens ein Preuße. 1907 von Otto Hintze promoviert, dann seines ersten postuniversitären (und für die Zeit ganz ungewöhnlichen) Forschungsprojekts wegen eine Zeitlang nach Franken "abgedriftet" und in engeren Kontakt zu seinem neuen Mentor, dem Hallenser Neuzeithistoriker Richard Fester gekommen, habilitierte er sich 1910 in Halle - Rufe nach auswärts schienen nur eine Frage der Zeit zu sein. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veränderte diesen Lebensentwurf fundamental: Kriegsfreiwilliger, Ostfront (Baltikum) mit Kriegseinsatz, gesundheitliche Probleme mit mehrjährigen Lazarett- und Klinikaufenthalten, nur sehr mühsame Wiederherstellung seiner Gesundheit. Zudem beschäftigten den jungen, national-konservativ orientierten Gelehrten die Gründe für Deutschlands Niederlage und den politisch-sozialen Umbruch in starkem Maß, auch publizistisch. 1923 schließlich, eher überraschend, nach einem kurzen Intermezzo in Kiel und einem abgelehnten Ruf nach Hamburg die Berufung nach Berlin auf den Lehrstuhl seines Lehrers Otto Hintze, den Hartung dann ein Vierteljahrhundert lang innehaben sollte: ein Lebenstraum ging damit in Erfüllung.

Die Lebensphase bis zur Berufung nach Berlin (und seiner Vermählung mit der Witwe eines im Krieg gebliebenen Seeoffiziers: Nr. 68, 69) gibt einen wunderbaren Einblick in die Mühen eines "Nachwuchswissenschaftlers", sich über "Drittmittelprojekte" wie die Geschichte des Fränkischen Reichskreises oder über Carl August von Sachsen-Weimar einen wissenschaftlichen Namen zu machen und spiegelt, wie sich seine Hoffnungen und Träume, bald einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität zugesprochen zu erhalten, lange nicht erfüllten: teils wegen seines Lungenleidens, teils wegen des für ihn erst allmählich durchsichtiger werdenden Intrigenspiels in Berufungskommissionen. Frustriert, oft genug der bedrückenden Perspektive erliegend, auf dem Status eines mehr oder weniger mittellosen "ewigen Privatdozenten" verharren zu müssen, begann er sehr konkret berufliche Alternativen wie etwa den Archivdienst ins Auge zu fassen (Nr. 41, 45 u. ö.). Trotz allem zeichnet die Briefe auch aus dieser frühen Periode schon ein ungewöhnliches Maß an Selbstironie, ja an Witz (und gelegentlich auch ein wenig Sarkasmus) aus - eine Seite, die man bei einem "trockenen" Verfassungs- und Verwaltungshistoriker nicht eo ipso vermuten würde. Über die Schilderung der akademischen Situation in Halle (und dann auch Kiel) hinaus sind die Korrespondenzen mit seinen akademischen Lehrern und Freunden (u.a. Richard Fester, Siegfried A. Kaehler, Arnold Oskar Meyer) und seiner Mutter aber auch ein Spiegel seines Erlebens des Krieges und der neuen Gesellschaftsordnung von 1919, die er trotz leichter Akkommodierungsprobleme klar bejahte.

Die Jahre der Weimarer Republik und der NS-Diktatur sind zum einen geprägt von seinem raschen Aufstieg in der virtuellen Hierarchie der deutschen Historiker und seinen Beziehungen zu einigen der Großen des Fachs, vor allem seinen Berliner Kollegen Meinecke, Oncken, Brackmann und A. O. Meyer, zum anderen von seinen "Kämpfen" mit den für die Berliner Universität (und dann auch die Akademie) zuständigen Ministerien um Ressourcen und Personen, vor allem während seines langen Dekanats Anfang der 1930er Jahre, zum dritten von seinen (bitteren und sarkastischen) Kommentaren zum Zeitgeschehen. Es mutet ungemein sympathisch an, wie Hartung sich um die zunächst nicht vorwärts gehenden Karrieren von Freunden (Hasenclever) Gedanken machte und mit Kollegen wie Rothfels und Herzfeld mitfühlte, deren Karrieren vom Regime abgebrochen worden waren, es zeugt von seiner wissenschaftlichen Unbestechlichkeit, wie er von der NSDAP initiierten Personalmaßnahmen Widerstand leistete (Habilitation Six, Akademiemitgliedschaft Hoppe) und sich schützend vor von der Entlassung bedrohte, "gefährdete" (jüdische und nichtjüdische) Kollegen stellte. Seine wichtigsten Gesprächspartner in dieser Phase seines Lebens waren sein Lehrer Richard Fester, den er bis zu dessen Tod 1945 mit der Anrede "Hochverehrter Herr Geheimrat" bedachte, Siegfried A. Kaehler, mit dem er in einem eher saloppen Ton verkehrte und dem er immer wieder seine Schreibfaulheit vorwarf, und Willy Andreas, der kurzzeitige Vorgänger auf dem Hintze-Lehrstuhl. Seine Distanz zum NS-Regime spiegelt sich vielleicht am ehesten darin, dass er nach 1933 ganze zwei Briefe - wenn ich nichts übersehen habe - mit dem im Dienstgebrauch an sich vorgeschriebenen "Heil Hitler!" unterschrieb. Seine Berichte aus dem brennenden und der Zerstörung anheimfallenden Berlin lesen sich bedrückend, seine Prognosen zur Halbwertzeit des Regimes und zur Situation Nachkriegsdeutschlands und zum Stellenwert der Geisteswissenschaften in ihm (Nr. 178) verraten den nüchtern denkenden, bei alledem ungemein bescheidenen Historiker, der sich schon mehrmals in seinem Leben am Abgrund stehend gewähnt hatte.

Die unmittelbaren Nachkriegsjahre unterschieden sich, was die Versorgung und die Lebensumstände betraf, für Hartung nur um Nuancen von den Kriegsjahren, sie erhielten aber eine neue Dimension, als der im Westteil von Berlin lebende Professor der "Lindenuniversität" und Mitglied der Akademie seine Bezüge - sofern sie überhaupt ausbezahlt wurden - nun in Ostmark erhielt, die ihres stetig abfallenden Kurses wegen im Westen hinten und vorne nicht ausreichten. Gravierender aber war, wie die alte Universität immer mehr unter sowjetische Kontrolle geriet und die Akademie wegen des Weggangs vieler Mitglieder allmählich auszehrte. Den vielen Versuchen, "linientreue" Wissenschaftler in die Akademie zu bringen, setzte Hartung seinen beharrlichen Widerstand entgegen, kapitulierte am Ende aber vor den Versuchen der neuen Machthaber, die Universität zu "pädagogisieren", und ließ sich emeritieren (Nr. 226). Damit wurde er nun vollends zu einem "Grenzgänger", der als Emeritus der Ost-Berliner Humboldt-Universität und ordentliches Mitglied der Ost-Berliner Akademie, unter deren Dach sich die von Hartung herausgegebenen "Jahresberichte für deutsche Geschichte" inzwischen befanden, sich für die Zusammenarbeit der zunehmend auseinander driftenden Historikerschaften einsetzte und gleichzeitig immer mehr in die im Westen beheimateten Organisationen wie das neue "Institut für Zeitgeschichte" (mit seiner turbulenten Frühgeschichte) und die Münchener Historische Kommission eingebunden wurde. Seine Korrespondenzpartner wurden demzufolge auch immer stärker "westliche" Kollegen wie Gerhard Ritter, der Monumenta-Präsident Friedrich Baethgen, Hermann Aubin und Hans Rothfels, mittlerweile Professor in Tübingen - denen er aber stetig sein ceterum censeo vortrug, die Einheit Deutschlands nicht aus dem Auge zu verlieren. Auch seine - meist nach kurzer Zeit wieder stornierte - Mitarbeit in ostzonalen Gremien stand immer unter diesem stillschweigenden oder expliziten Vorbehalt. Aber die Dinge trieben dann doch auf Hartungs Distanzierung von der Entwicklung in der DDR zu, vor allem nachdem sein "Kind", die seit 1947 allein von ihm geleiteten "Jahresberichte", immer mehr der Zensur der linientreuen Historiker in der Akademie unterworfen wurde, und vollends natürlich, nachdem sich ein eigener Historikerverband der DDR gegründet hatte. Hartung wurde zu einem maßgeblichen Mitglied der "westlichen" Führungsmannschaft, auch wenn er in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr viel publizierte; seine große Vision, eine "Allgemeine (wohl europäisch ausgerichtete) Verfassungsgeschichte der Neuzeit" zu schreiben, blieb ein Projekt.

Die Edition mit ihren 343 Nummern ist geradezu mustergültig - der letzte hier abgedruckte Brief aus dem Februar 1964 richtete sich übrigens an seinen "Meisterschüler" Gerhard Oestreich. Die Zahl der von Kraus über den Hartung-Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek hinaus benutzten Nachlässe - es werden lediglich Briefe Hartungs berücksichtigt, die Gegenschreiben finden sich, wenn es sinnvoll oder notwendig ist, in den Anmerkungen - ist beeindruckend; dem Rezensenten ist nichts aufgefallen, wo man unter Umständen auf weiteres Material hätte stoßen können. Nach meinem Geschmack wird aus den ausgehenden 1940er und beginnenden 1950er Jahren ein wenig zu viel aus dem Innenleben der Berliner Akademie wiedergegeben - aber darüber kann man auch anderer Meinung sein. Schade, dass kein Brief Hartungs Sicht der Berliner Ereignisse um den 17. Juni 1953 wiedergibt. Die Kommentierung der Briefe lässt keinerlei Wünsche offen und kommt einem Vademecum der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem Kaiserreich und der Nach-Adenauer-Bundesrepublik gleich. Auch das mehr als 60 Seiten umfassende Verzeichnis der Schriften Hartungs, der sonstigen gedruckten Quellen und der Forschungsliteratur muss als erschöpfend bezeichnend werden. Die Einleitung des Herausgebers ist ebenso profund wie lesenswert.

Natürlich gibt es bei einer solchen Auswahledition Lücken, aber dafür wird es Gründe geben. Und generell wird man dem Herausgeber bescheinigen müssen, dass er bei den Textschnitten der ausgewählten Briefe einen guten Mittelweg zwischen Persönlich-Privatem, den Kommentaren zu den politischen Entwicklungen, den allgemeinen Einblicken in das Sozialleben der "Zunft" und den Reflexionen der eigenen Publikationen und denen Dritter gefunden hat. Auch wenn Hartung, oft durch seine Krankheiten zurückgeworfen, nicht im raschen Staccato ein gewichtiges Buch nach dem anderen publizierte: in seiner bescheidenen, gleichwohl den beiden totalitären Systemen gegenüber, die er durchleben musste, konsequenten Ablehnung und in seinem Bemühen, wenigstens im Wissenschaftsbereich den Prozess des Auseinandertretens der beiden Deutschländer aufzuhalten, war er eine markante Person der Zeitgeschichte - und natürlich der "Zunft"!

Heinz Duchhardt