Rezension über:

Rainer Bendick / Ulrich Bongertmann / Marc Charbonnier u.a. (Hgg.): Deutschland und Frankreich - Geschichtsunterricht für Europa / France - Allemagne. L'enseignement de l'histoire pour l'Europe. Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche im europäischen Kontext / Les rencontres franco-allemandes sur les manuels scolaires dans le contexte européen (= Geschichte für heute in Wissenschaft und Unterricht), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018, 349 S., ISBN 978-3-7344-0598-3, EUR 29,90
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Rezension von:
Christian Heuer
Institut für Gesellschaftswissenschaften, Pädagogische Hochschule Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Christian Heuer: Rezension von: Rainer Bendick / Ulrich Bongertmann / Marc Charbonnier u.a. (Hgg.): Deutschland und Frankreich - Geschichtsunterricht für Europa / France - Allemagne. L'enseignement de l'histoire pour l'Europe. Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche im europäischen Kontext / Les rencontres franco-allemandes sur les manuels scolaires dans le contexte européen, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/07/31713.html


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Rainer Bendick / Ulrich Bongertmann / Marc Charbonnier u.a. (Hgg.): Deutschland und Frankreich - Geschichtsunterricht für Europa / France - Allemagne. L'enseignement de l'histoire pour l'Europe

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Dass es sich mit dem hier zu besprechenden Sammelband nicht lediglich um eine Publikation handelt, die sich an die geschichtsdidaktischen Scientific Communities und an die Geschichtslehrer*innen der beiden thematisierten Länder richtet, wird der Leserin und dem Leser gleich zu Beginn deutlich vor Augen geführt. Mit dem abgedruckten gemeinsamen Kommuniqué der Berufsverbände VGD (Verband der Geschichtslehrer Deutschlands) und der APHG (Association des Professeurs d'Histoire et de Géographie) soll die Publikation des Bandes den Auftakt für eine Wiederbelebung des bilateralen Dialogs zwischen den Verbänden beider Länder, mit dem Ziel die deutsch-französischen Beziehungen auch zukünftig zu stärken, markieren. Dadurch lässt sich der Band als weiteres Ereignis gelungener 'Völkerverständigung' wie sie 1963 im Élysée-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich vereinbart wurde, verstehen und sich so in die 'Erfolgsgeschichte' des deutsch-französischen Austausches über Fragen des historischen Lernens und Lehrens im Unterricht der beiden Länder scheinbar mühelos einbinden. Mit den abgedruckten Vorworten wird diese (verbands)politische Stoßrichtung verdeutlicht. Es geht um mehr als nur um Fragen des Geschichtsunterrichts in den beiden Ländern, nämlich auch um die Wiederbelebung eines krisengeschüttelten "conscience européenne" und eine damit verbundene Hoffnung: "Le présent volume montre heureusement le chemin. Que la longue marche se poursuive!" (18).

Eingeleitet wird der Band durch den Beitrag von Etienne François, der anhand einer kritischen Reflexion des Entwicklungsprozesses des deutsch-französischen Geschichtsschulbuchs zukünftige Herausforderungen und Vorschläge für einen transnationalen Diskurs über Unterricht, Bildung und Erziehung in europäischer Perspektive skizziert. Um diesen zu ermöglichen, so plädiert der Autor, sollte es vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen besonders darum gehen, "in die Schule des Anderen zu gehen, die eigenen Gewohnheiten und vorgefassten Ideen in Frage zu stellen, sich zu öffnen für die Vielfalt der Methoden, der Vorgehensweisen und der Konzepte, die die Realität Europas bestimmen und seinen Reichtum ausmachen" (41).

In den vier Beiträgen des ersten Teils werden zunächst mit dem historischen Blick zurück auf die Entwicklung der deutsch-französischen Schulbuchgespräche, die "Geschichte eines erfolgreichen Austauschs" (51) aus französischer und deutscher Perspektive erzählt. Der zweite Teil thematisiert dann in drei Beiträgen die gegenwärtige Situation und die Stellung des Geschichtsunterrichts in den beiden Ländern. Während Ulrich Bongertmann die Rahmenbedingungen und Herausforderungen gymnasialen Geschichtsunterrichts in Deutschland beschreibt, werden in den Beiträgen der französischen Autor*innen, Hubert Tison und Claire Ravez, die bildungspolitischen Reformbestrebungen und Diskussionen um schulisches historisches Lernen bis ins Jahr 2017 als Kampfplätze akzentuiert und die, je nach Perspektive unterschiedlichen Erwartungen an einen 'guten' Geschichtsunterricht thematisiert. Im dritten Teil widmen sich dann die Autor*innen ganz unterschiedlichen, didaktischen und methodischen Aspekten des Geschichtsunterrichts. So finden sich unter anderem Beiträge zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, zur Verwendung des deutsch-französischen Schulbuches im französischen Unterricht, zum bilingualen Geschichtsunterricht sowie Beiträge zu geschichtskulturellen Institutionen und Manifestationen.

Das selbstformulierte Ziel, nämlich eine notwendige deutsch-französische Diskussion über didaktische und methodische Aspekte des Geschichtsunterrichts anzuregen, um letztlich Geschichtsunterricht auf beiden Seiten zu verbessern (9), wird sicherlich durch einige der Beiträge erreicht werden können. Insbesondere im Beitrag von Peter Geiss gelingt das, wenn er anhand eines exemplarischen Vergleichs einer Aufgabe des Abiturs in Nordrhein-Westfalen und einer des französischen Baccalauréat, für einen "geschichtsdidaktische[n] Realismus" (170) beiderseits des Rheins plädiert, der zum einen die "deutsche Krankheit des nahezu permanenten Urteilszwangs" (ebenda) vermeidet und gleichzeitig den "esprit critique" (169) in Bezug auf die "Kontextrelativität historischer Sinnkonstruktionen" (170) fördert. Bei allen inhaltlichen Argumenten gegen seine Ausführungen wird hier das Lernpotential deutlich, das sich aus einem deutsch-französischen Vergleich der Aufgaben- und Unterrichtskulturen des Geschichtsunterrichts ergeben könnte.

Trotzdem erscheint der Band aus geschichtsdidaktischer Perspektive an vielen Stellen aus der Zeit gefallen zu sein. Eine Portion geschichtsdidaktischer Reflexivität, die die Bedingungen der eigenen Möglichkeiten geschichtsunterrichtlicher Setzungen thematisiert, hätte den Beiträgen durchaus an vielen Stellen gut getan. Diese können hier nur angedeutet werden, aber von "aktuelle[n] fachdidaktische[n] Probleme[n]" (107) zu schreiben und sich dann auf die Kompetenzdebatte, Schulbücher und digitale Medien et cetera zu beschränken, erscheint, angesichts gegenwärtiger fachspezifischer Verunsicherungen, seien es die Debatten um inklusives und subjektorientiertes historisches Lernen, soziale Ungleichheiten, Geschichtswissen als Distinktionsmerkmal et cetera, fragwürdig zu sein. Auch verstärkt dieser Band einmal mehr die bereits frühzeitig artikulierte "gymnasiale Schräglage" (Bodo v. Borries) geschichtsunterrichtlicher Reflexionen. [1] Denn vom Geschichtsunterricht zu schreiben und dann lediglich gymnasialen Unterricht beziehungsweise historisches Lernen am Lycée zu thematisieren, bedient sich wieder einmal dem tradierten Muster normativer Setzungen, nach denen im gymnasialen Setting gewonnene Einsichten zur Norm geschichtsunterrichtlicher Reflexionen erhoben werden. Historisches Lernen aber findet eben nicht nur im Gymnasium und Lycée statt, sondern eben auch in der École Primaire, dem Collège, den Grund-, Gemeinschafts- und Realschulen.

Überhaupt stellen die Beiträge, die sich mit didaktischen und methodischen Aspekten des Geschichtsunterrichts beschäftigen, nur wenige Überlegungen an, die sich mit ihrem Thema auf dem gegenwärtigen theoretischen und empirischen Stand der Wissenschaft vom historischen Lernen und Lehren auseinandersetzen. Betrifft dies insbesondere die französisch-sprachigen Beiträge des dritten Teils, bei denen es sich in erster Linie um historische Abhandlungen handelt, die keinerlei Bezüge zur französischsprachigen Scientific Community der Geschichtsdidaktik herzustellen vermögen, so gilt dies auch zum größten Teil für die deutschsprachigen Beiträge, die letztlich - und lediglich auf einer schmalen Basis geschichtsdidaktischer Fixsterne und fehlender empirischer Befunde aufbauend - eher eigentümliche normative Setzungen für historisches Lernen im gymnasialen Geschichtsunterricht präferieren, statt aus der Distanz heraus, geschichtsdidaktisch-reflektiert über historisches Lernen im Geschichtsunterricht der beiden Länder zu argumentieren.

Das größte Verdienst der Herausgeber dieses Bandes zum deutsch-französischen Dialog in Bezug auf Fragen des Geschichtsunterrichts und im weitesten Sinne der Geschichtsdidaktik liegt abschließend in erster Linie darin, diesen überhaupt initiiert und als Sammelband publiziert zu haben. Denn trotz aller bildungspolitischen Initiativen und grenzüberschreitender Projekte ist doch die Kulturspezifität des Geschichtsunterrichts bei jedem der Einblicke in die Realitäten deutsch-französischer Schulwelten gewonnen hat mit Händen zu greifen. [2] Der Einschätzung Etienne François' ist, auch nach der Lektüre des Bandes, zuzustimmen: Die Verständigung über (geschichtsdidaktische) Fragen historischer Bildung und Ziele historischen Lernens in der Schule steckt immer noch in ihren Anfängen (27).

Vor diesem Hintergrund stellen der Band und die damit verbundene Initiative, Einblicke in die methodische und didaktische Praxis des Geschichtsunterrichts des jeweiligen Landes zu geben, einen wichtigen Schritt dar. Gerade in Zeiten, in denen nationale Bezüge wieder verstärkt an Gewicht gewinnen, Nationalismen auf politischer Ebene gepflegt werden und Geschichtsunterricht wieder zur Stärkung eines Nationalbewusstseins instrumentalisiert wird, erhalten solche Initiativen ein besonderes Gewicht, um einen Dialog über Ziele und Methoden historischen Lernens jenseits nationaler Diskurse zu ermöglichen. Dass es sich im Sinne der Perspektivendifferenz allerdings zukünftig anbieten würde, Dialoge nicht nur innerhalb der gymnasialen Trägerschaft der Verbände zu führen, sondern diese auch für andere Akteur*innen und Beobachter*innen schulischen historischen Lernens zu öffnen, steht dabei für den Rezensenten außer Frage.

Ein Blick in das Autor*innenverzeichnis am Ende genügt: Dieser Band stellt nicht zuletzt auch die Würdigung und Verabschiedung einer Generation engagierter Fachvertreter*innen dar, die sich in den letzten Jahrzehnten um diesen Dialog auf verbandspolitischer Ebene bemüht haben. Aber "die Geburtsstunde einer weiteren Generation" (70) deutsch-französischer Schulbuchgespräche wird nicht zuletzt auch davon abhängig sein, inwieweit es gelingt, die Akteur*innen der Felder Geschichtsdidaktik, Schulpraxis und Fachverbände mit ihren unterschiedlichen und differenten Logiken an diesem Dialog zu beteiligen. Eh bien, allons-y!


Anmerkungen:

[1] Bodo von Borries u.a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002, Neuried 2005, hier 11.

[2] Vergleiche zum Geschichtsunterricht in Frankreich Hans-Joachim Cornelißen: Geschichtsunterricht in Frankreich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), Heft 3 / 4, 141-153 und zu fachübergreifenden Aspekten die einzelnen Beiträge in Carla Schelle / Oliver Hollstein / Nina Meister (Hgg.): Schule und Unterricht in Frankreich. Ein Beitrag zur Empirie, Theorie und Praxis, Münster u.a. 2012.

Christian Heuer