Rezension über:

Christian Kaiser / Leo Maier / Oliver Maximilian Schrader (Hgg.): Die nackte Wahrheit und ihre Schleier. Weisheit und Philosophie in Mittelalter und Früher Neuzeit - Studien zum Gedenken an Thomas Ricklin (= Dokimion; Bd. 42), Münster: Aschendorff 2019, VII + 622 S., ISBN 978-3-402-12486-4, EUR 76,00
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Rezension von:
Herbert Jaumann
Neunburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Jaumann: Rezension von: Christian Kaiser / Leo Maier / Oliver Maximilian Schrader (Hgg.): Die nackte Wahrheit und ihre Schleier. Weisheit und Philosophie in Mittelalter und Früher Neuzeit - Studien zum Gedenken an Thomas Ricklin, Münster: Aschendorff 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 9 [15.09.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/09/34774.html


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Christian Kaiser / Leo Maier / Oliver Maximilian Schrader (Hgg.): Die nackte Wahrheit und ihre Schleier

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Der stattliche Band, in dem 'Philosophiegeschichte' des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, besonders des italienischen Humanismus im 15. Jh., in einem sehr weiten Sinn verstanden wird (daher wohl auch der gewissermaßen hyperdisziplinäre Zusatz 'Weisheit' im Untertitel), ist dem Andenken an den am 23. September 2016 mit 53 Jahren verstorbenen Thomas Ricklin gewidmet. Ricklin war seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance und Leiter des gleichnamigen Seminars an der LMU München. Der geborene Zürcher hatte Theologie und Philosophie des Mittelalters in Zürich und vor allem in Fribourg bei Ruedi Imbach studiert, wo er mit einer Dissertation über Traumtheorien in der Philosophie des 12. Jahrhunderts promoviert wurde. [1] Die Mehrzahl, aber nicht alle, der sechsundzwanzig Beiträge gehen teils auf die internationale Gedenktagung "Narrative Provokationen der Philosophie" vom September 2017 an der LMU München zurück, teils auf die anschließende Vorlesungsreihe, die unter demselben Titel wie der nun gedruckte Sammelband im WS 2017/18 in München veranstaltet wurde. Dass neben den Beiträgen auf Deutsch von den Herausgebern sowie u.a. von Claudia Märtl, Florian Mehltretter, Gisela Seitschek, Johannes Bartuschat, Sabrina Ebbersmeyer, Angela Oster und Gabriele K. Sprigath mehrere Artikel in italienischer und französischer Sprache vorliegen, dokumentiert die westeuropäische Orientierung des schweizerischen Philosophen; seltsam ist nur, dass eine Beziehung zur spanisch-portugiesischen Forschung ganz fehlt. Einer von vier Texten in englischer Sprache ist der gewichtige Beitrag der Witwe Sandra Plastina Ricklin (Cosenza) über "English Female Historians of the XVIIIth Century". Die meisten Beiträge stehen den von Ricklin verfolgten Forschungsfragen und Themen nahe, viele Autorinnen und Autoren zählten zu seinem internationalen Schüler- oder Bekannten- bzw. Kollegenkreis. Zwei Artikel bieten die kritische Edition und Übersetzung kürzerer Texte von Autoren, mit denen sich auch Ricklin eingehend beschäftigt hat: von Christian Kaiser und Peter Schenkel die erste Differentia aus Pietro d'Abanos Conciliator differentiarum quae inter philosophos et medicos versantur aus dem frühen 14. Jh. sowie "Jodocus Eichmanns Katharinenpredigt von 1459 im Kontext des Heidelberger Frühhumanismus" von Oliver Maximilian Schrader. Vom Stand der "Critical edition of the Compendiloquium by John of Wales" berichtet Alessandra Beccarisi (Salento). Da es den Rahmen dieser kurzen Besprechung sprengen würde, müssen wir auf die Hervorhebung weiterer Einzelbeiträge leider zugunsten zweier Artikel verzichten, die sich ausdrücklich auf die Person des Verstorbenen und seine Art und Zweckbestimmung der Philosophiehistorie konzentrieren.

Davon und vor allem von Stil und Habitus seines Forschens und seines Umgangs mit Schülern und Kollegen erhält der interessierte Leser in dem einleitenden Prolog der Herausgeber, dem ein ausführliches Schriftenverzeichnis angefügt ist (auch ein Namenregister sowie eine Liste der Abbildungen ist dem Band beigegeben), sowie in dem letzten Beitrag, dem Epilog seines Freiburger Lehrers Imbach, einen trefflichen Eindruck mit einer Fülle von Hinweisen. Danach hatte sich der noch nicht Zwanzigjährige für die linke kulturrevolutionäre "Bewegig" im Zürich der frühen 80er Jahre engagiert ("Züri brännt"). Als Sohn eines Kunstmalers hatte er sich daran auch aktiv mit selbstgestalteten Grafiken und Plakaten beteiligt. Von dieser künstlerischen Kreativität zeugte auch später noch das Exlibris für die eigene Bibliothek, dessen Bildelemente und nicht zuletzt das Motto dolce dubbio vielsagende Hinweise aussenden (15 f., u. Abb. 6). Besonders interessant sind hier auch die detaillierten Ausführungen über die Philosophie des Zürcher Arbeiterarztes und Sexualforschers Fritz Brupbacher (1874-1945), die durch die Gruppe der jugendlichen Provokateure propagiert wurde. [2] Die Herausgeber verweisen zu Recht auf einen Zusammenhang der Schriften Brupbachers mit der epikureischen Tradition der konsequenten Diesseitigkeit und Todesverachtung, vielleicht wäre auch an den Mediziner und mutigen Atheisten La Mettrie zu denken († 1751 in Potsdam). Ins Zentrum gerückt wird sodann Ricklins Interesse an den Werken Boccaccios und Dantes, an der Überlieferung und Auslegung der antiken exempla als meist unterschätztem, aber legitimem Weg zum Wissen im Mittelalter, überhaupt sein "eklektischer Zugang zur Vergangenheit" (15), und schließlich und vor allem seine "skeptische Grundhaltung" des Zweifelns zumal an allgemein akzeptierten Frageweisen der historischen Wissenschaften. Dass Ricklin auch "überzeugter Feminist" war (17), zeigt immerhin, dass der gewohnte Zweifel auch einmal ausgesetzt werden konnte, wenn es um 'Korrektheit' ging [3], - auch wenn es ihm zu seinem Glück erspart blieb, sich vorschriftsmäßig auch etwa noch zu Kants 'Rassismus' äußern zu müssen.

Die schönste Formulierung seines Grundsatzes hat Ricklin seinem Hauptautor Dante Alighieri entnommen, wo dieser sich seinem Führer Vergil gegenüber äußert: Che, non men che saver, dubbiar m'aggrata (Inferno XI, v. 93: "denn den Zweifel hab' ich ebenso gern wie das Wissen"). [4] Sein Lehrer Imbach hat denselben Vers zum Titel seines Epilogs mit "Gedanken zur Aufgabe des Lehrers in Erinnerung an Thomas Ricklin" gemacht. Diese Gedanken an den Schüler und Mitarbeiter, Kollegen und Freund hätten ihn, inspiriert auch durch Brechts Lob des Zweifels ("Ich bin Lehrer / Aber wer belehrt mich?"), zu der Behauptung geführt, "dass Thomas Ricklin in mehrfacher Hinsicht mein Lehrer war" (598), und im Horizont dieser Hinsichten, unter denen er selbst von ihm gelernt habe, werden dann die eigentümlichen Leistungen und Kompetenzen dieses Lehrers eindrucksvoll gewürdigt [5]: allererst die maßgebliche Mitarbeit (mit Francis Cheneval, Dominik Perler und Tiziana Suárez-Nani) an den von Imbach herausgegebenen Opera minora, d.h. den Philosophischen Werken Dantes in 4 Bänden im Verlag Felix Meiner 1993-2004. Diese sind jeweils zweisprachig mit neuer Übersetzung, mit einer umfassenden Einleitung und einem "Literalkommentar", den man sich ergiebiger kaum vorstellen kann. Man schlage nur Band 1 auf (Das Schreiben an Cangrande della Scala, Hamburg 1993), den Ricklin ganz alleine verfasste, möchte nicht aufhören zu lesen und hat bereits in dieser Arbeit des Dreißigjährigen den eindrucksvollsten Beweis für die umfassende Kompetenz dieses Historikers. Weiter betont Imbach Ricklins großes Interesse an der zentralen Bedeutung der Übersetzung für die Kultur des (alten) Europa (Umberto Eco: La lingua dell'Europa è la traduzione), um schließlich auf dessen Vorstellungen von der eigentlichen Aufgabe der philosophiehistorischen Forschung zu kommen. Diese sah Ricklin weder darin, "dem aktuellen philosophischen Diskurs Philosopheme vergangener Epochen zugänglich zu machen", noch in einem Bericht "über die Siegesgeschichte des intellektuellen Fortschritts." Es ging ihm vielmehr, wie er selbst formuliert hat, um die "unerhörten Aussagen", mit denen man schon immer "spezifische Gruppen von Zeitgenossen im Namen der Philosophie" konfrontiert habe, und die Erinnerung an diese "tatsächlich ergangenen Herausforderungen" gelte es, präsent zu halten und immer wieder verständlich zu machen (602).


Anmerkungen:

[1] Thomas Ricklin: Der Traum der Philosophie im 12. Jh. Traumtheorien zwischen Constantinus Africanus und Aristoteles (= Mittellateinische Studien u. Texte; Bd. 24), Leiden 1998.

[2] Vgl. Fritz Brupbacher: Der Sinn des Lebens, hg. von Paulette Brupbacher, Zürich 1946, sowie u.a. Karl Langer: Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher, 2. Aufl., Zürich 1983.

[3] Dazu vgl. z.B. zwei Rezensionen Ricklins, etwa von Wilhelm Büttemeyers Biografie über Ernesto Grassi von 2009, seines Vorvorgängers auf dem Münchner Lehrstuhl (1948-1970): Von Heidegger über Mussolini nach München, in: Süddeutsche Zeitung, 26.08.2010, und über Sylvain Gouguenheims Infragestellung der Bedeutung der arabischen Wissenschaft für das mittelalterliche Europa (Paris 2008, deutsch 2011): Der Mittelalter-Sarrazin. Das französische Skandalbuch, jetzt auf Deutsch [...], in: Süddeutsche Zeitung, 24.08.2011.

[4] Vgl. Thomas Ricklin: "Denn, nicht weniger als zu wissen, behagt's mir zu zweifeln" [...], in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie 49 (2009), 89-95.

[5] Vgl. etwas ausführlicher Ruedi Imbach: In memoriam Thomas Ricklin, in: Bulletin de philosophie médiévale 58 (2016), 629-638, sowie zwei der Herausgeber des vorliegenden Bandes, Christian Kaiser / Leo Maier: Philosophiegeschichte als Ensemble von Provokationen: Thomas Ricklins Wirken in München, in: Bruniana & Campanelliana 24 (2018), 277-283.

Herbert Jaumann