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Peter Hennessy: Winds of Change. Britain in the Early Sixties, London: Allan Lane 2019, XIV + 603 S., 54 s/w-Abb., ISBN 978-1-8461-4110-2, EUR 30,00
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Rezension von:
Gerhard Altmann
Korb
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Gerhard Altmann: Rezension von: Peter Hennessy: Winds of Change. Britain in the Early Sixties, London: Allan Lane 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/33926.html


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Peter Hennessy: Winds of Change

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Der britische Premierminister Harold Macmillan, Spross einer erfolgreichen Verlegerfamilie, gilt in Habitus und Rhetorik als ein wenig aus der Zeit gefallener "last Edwardian at No.10" (George Hutchinson). Dabei war Macmillan schon in den 1930er Jahren durch unkonventionelle Ansichten hervorgetreten. Nach der Weltwirtschaftskrise hatte er sich für eine interventionistische Politik ausgesprochen, die nicht auf die Selbstheilungskräfte des Marktes baute. Er schlug sich auf Winston Churchills Seite in dessen Feldzug gegen die Appeasement-Politik, als dies noch keineswegs karrierefördernd wirkte. Und als parlamentarischer Staatssekretär des Kolonialministeriums verlangte er 1942 eine Bodenreform nach sowjetischem Vorbild, um in Kenia einen Bürgerkrieg zu verhindern. [1]

Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, dass Peter Hennessy seine Geschichte Großbritanniens zu Beginn der 1960er Jahre um drei zentrale Themen gruppiert. Die bis in die jüngste Historiographie hinein mit einem Unterton der Selbstzerknirschung geführte Debatte über den schleichenden Niedergang der britischen Wirtschaft prägte auch die Ära Macmillan (1957-1963). Die "twin bibles" (123) des Nachkriegskonsenses - das keynesianische Konzept für Vollbeschäftigung und das Beveridge-System des Wohlfahrtsstaates - taugten immer weniger als Fundament für das parteiübergreifend verheißene New Jerusalem. Wiederkehrende Stirlingkrisen und chronische Handelsbilanzdefizite verlangten eigentlich nach neuen Glaubenssätzen. Doch der von Macmillan mit der "Nacht der langen Messer" im Juli 1962 angestrebte Befreiungsschlag brachte nicht die erhoffte Wende: Das rabiate Kabinettsrevirement wurde als Akt der Verzweiflung eines angezählten Premierministers gesehen, dessen sozialdemokratisch inspirierte Modernisierungsstrategie darauf abzielte, der One-Nation-Tradition der Tories mit einem Schuss französischem dirigisme aufzuhelfen. Hennessy moniert mehrfach, dass die Verantwortlichen in London nicht an der sozialen Marktwirtschaft Westdeutschlands Maß genommen haben. Der zeittypische dawnism - die nachgerade euphorische Aufbruchstimmung in vielen Lebensbereichen - hinterließ jedenfalls zwiespältige Ergebnisse: Hennessy, der seine anschauliche Erzählung über weite Strecken aus der Perspektive des (jungen) Zeitzeugen schreibt, charakterisiert beispielsweise das britische Eisenbahnsystem als "romantic mess" (343) und verdeutlicht damit, dass die einschneidenden Reformen Richard Beechings in diesem Bereich ebenso notwendig wie schmerzhaft und in ihren Resultaten diskussionswürdig waren. Gleiches gilt für den Städtebau der 1960er Jahre, der mit seelenlosen Betonburgen die Lebensqualität der Bewohner nur vorübergehend verbessert habe.

Das zweite Modernisierungsprojekt betraf Britanniens Platz in den internationalen Beziehungen. Auch hier fällt Macmillans Bilanz gemischt aus. Hennessy befasst sich intensiv mit dem europäischen Komplex der Inselnation. Macmillan komme das Verdienst zu, die Rolle, die Großbritannien im Kalten Krieg spielen konnte, vergleichsweise realistisch eingeschätzt zu haben, ohne dabei den Anspruch globaler Handlungsfähigkeit aufzugeben. Gleichzeitig scheiterte die Mesalliance mit dem Kontinent letztlich wohl daran, dass sie nie ein "sentimental surrogate" (13) für die imperiale Grandeur von einst zu bieten vermochte. Dass Macmillan mit seinen Europaplänen auf Charles de Gaulle traf, der als "one-man roadblock" (44) zweimal den britischen Weg nach Europa verstellte, hat alle Ingredienzien eines Shakespeare'schen Dramas: Macmillan war es zwar gelungen, zahlreiche alte Zöpfe der splendid isolation abzuschneiden und die Tories wie das Gros der Medien auf seine Seite zu ziehen, biss sich dann aber am französischen Präsidenten die Zähne aus. Während er gegenüber John F. Kennedy Ende 1962 in Nassau noch mit der "negotiation of his political lifetime" (308) glänzte und Großbritannien den Kauf der Polaris-Raketen ermöglichte, musste er wenige Wochen später hilflos zusehen, wie die Nemesis im Elysée-Palast die britischen Europahoffnungen zerpflückte. Gefielen sich Macmillan und weite Kreise der außenpolitischen Klasse in der Rolle der alten Griechen, die die präpotenten Römer - die Vereinigten Staaten - in der Kunst internationaler Diplomatie unterwiesen, so erlebte der Premierminister nun sein Waterloo, denn die außenpolitische Modernisierungsstrategie, für die er innenpolitisch einiges riskiert hatte, war ins Leere gelaufen. Auch in diesem Kontext hebt Hennessy das Fehlen einer bundesrepublikanischen Dimension hervor: Macmillans in der Somme-Schlacht 1916 grundierte antideutsche Haltung, mit der er gallig die Notwendigkeit kommentierte, ausgerechnet die Deutschen vor der UdSSR schützen zu müssen, verhinderte möglicherweise einen Brückenschlag nach Bonn, der alternative Zugänge zu de Gaulle eröffnet hätte, zumal der Bundestag den eine Woche nach de Gaulles Veto unterzeichneten Elysée-Vertrag mit einer Präambel flankierte, welche ganz im Sinne des britischen Ansatzes das transatlantische Credo der Bonner Republik betonte und damit Paris erzürnte.

Das dritte Politikfeld verschaffte Macmillan schließlich den ersehnten historischen Lorbeer. Der Abschied vom Empire, ohne Zweifel eine monumentale Aufgabe nach dem Krieg, bewegte die Briten, so Hennessy, weit weniger als der Spaltpilz Europa. Dies schmälert - bei aller berechtigter Kritik an einzelnen Schritten der Dekolonisation - nicht das Verdienst britischer Regierungen, diese tiefgreifende Transformation der Staatenwelt unter den Bedingungen des Kalten Kriegs ohne nennenswerte innenpolitische Verwerfungen bewerkstelligt zu haben. Macmillans patrizischer Habitus, der eingefleischten Nostalgikern das Gefühl der Kontinuität einflößte, half hier ebenso wie die "mercurial gifts" (205) des Kolonialministers Iain Macleod, der in gerade einmal zwei Jahren den Prozess der Dekolonisation in einer Weise beschleunigte, die progressive Kräfte im eigenen Land und antikolonialistische Skeptiker in den USA gleichermaßen ruhigstellte. Mit dem Commonwealth verfügte Großbritannien über "a good story to tell" (438), die den Abschied vom Empire als Vollendung eines von langer Hand geplanten Emanzipationsprozesses erscheinen ließ. Der titelgebende "Wind of Change" erfasste auch das Mutterland und veränderte es nachhaltiger als der disimperialism selbst: Die Migration aus den ehemaligen Überseegebieten konfrontiert die britische Gesellschaft bis heute mit mannigfachen Herausforderungen - auf dem Feld des Staatsbürgerrechts, der sozialen wie ökonomischen Integration und der Entwicklungspolitik. Trotz allem: Dass das Vereinigte Königreich "just another country" (Sex Pistols) sein könnte, erschien den Verantwortlichen und Meinungsmachern Anfang der 1960er Jahre abwegig.

Dass die Profumo-Affäre 1963 das Ende der Ära Macmillan einläutete, entbehrt nicht einer gewissen Ironie und wirft zugleich ein grelles Licht auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die ganz Westeuropa erfassten. Die Affäre brachte das Establishment auf die Anklagebank und unterminierte die deference als zentralen Pfeiler der britischen Klassengesellschaft. Macmillans Position wurde nicht nur durch die Lüge von Heeresminister John Profumo im Unterhaus über dessen Affäre mit Christine Keeler erschüttert, die auch mit dem sowjetischen Marineattaché verkehrte. Nachdem die Enttarnung des Doppelagenten George Blake 1961 die britischen Sicherheitsbehörden düpiert hatte, ließ die Regierung im Zuge des Vassall-Tribunals, das sich 1963 ebenfalls um eine Spionageaffäre drehte, zwei Journalisten verhaften, um an weitere Informationen zu gelangen. Die entfernt an die Spiegel-Affäre erinnernden Ereignisse trugen Macmillan für den Rest seiner Amtszeit eine schlechte Presse ein. Sein Kurzzeitnachfolger Alec Douglas-Home agierte "helpless before the taunts of the gritty meritocrat" (427), des neuen Labour-Führers Harold Wilson, der jedoch trotz geschickter Modernisierungsrhetorik die Unterhauswahlen 1964 nur hauchdünn gewann. Neben den schwierig einzulösenden Modernisierungsversprechen erbte Wilson von den Vorgängern auch die "great disruptor question" (481) der britischen Nachkriegsgeschichte: Europa.

"What we call the beginning is often the end. And to make an end is to make a beginning." [2] Mit diesen Worten T. S. Eliots versuchte Ursula von der Leyen den Brexit-Deal aus den Niederungen beinhart geführter Verhandlungen in die Höhen vorausschauender Staatskunst zu heben. Das ermüdende Ringen um Großbritanniens geregelten Abschied aus der EU drehte sich vorwiegend um jene Problemfelder, die Macmillan als Premierminister beschäftigt haben: die richtige Strategie für die britische Wirtschaft, den angemessenen Platz Großbritanniens in der Welt und nicht zuletzt eine realistische Perspektive für das geschichtliche Erbe einer global agierenden Nation. Der ehemalige Journalist Peter Hennessy spart nicht mit Lob für die Institutionen Großbritanniens, vor allem für die konstitutionelle Monarchie. Seine oft im Plauderton gehaltene, mit zahllosen persönlichen Anekdoten gespickte Darstellung bietet der zeithistorischen Forschung wenig Erfrischendes. Am stärksten sind jene Passagen, die sich dem Wechselspiel zwischen dem innenpolitisch insgesamt gelungenen Abschied vom Empire und der von de Gaulle zweimal vereitelten Ankunft in Europa widmen. Auch wenn Hennessy Macmillan den Rang eines großen Premierministers abspricht, liest sich das Buch wie eine Hommage an einen Politiker, der an einer Nahtstelle der britischen Nachkriegsgeschichte mit wechselndem Geschick versuchte, den unvermeidlichen Wandel zu gestalten oder doch wenigstens zu moderieren.


Anmerkungen:

[1] Für Macmillans Ausführungen vom 15.08.1942 vgl. Colonial Office 967/57 (National Archives).

[2] Remarks by President Ursula von der Leyen at the press conference on the outcome of the EU-UK negotiations, 24.12.2020; https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_20_2534 (letzter Zugriff 4.2.2021).

Gerhard Altmann