Rezension über:

Lenka Fehrenbach: Bildfabriken. Industrie und Fotografie im Zarenreich (1860-1917) (= Geschichte der Technischen Kultur; Bd. 11), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, 476 S., 5 Farb-, 92 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-70308-8, EUR 108,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Gabriele Betancourt Nuñez
Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Betancourt Nuñez: Rezension von: Lenka Fehrenbach: Bildfabriken. Industrie und Fotografie im Zarenreich (1860-1917), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 9 [15.09.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/09/33990.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Lenka Fehrenbach: Bildfabriken

Textgröße: A A A

Hinlänglich bekannt ist die sowjetische Avantgardefotografie, eine Ausprägung der in den 1920er Jahren entwickelten internationalen Bildsprache des Neuen Sehens. Am berühmtesten dürften Aleksandr Michajlovič Rodčenkos Aufnahmen sein, deren ungewöhnlicher Bildaufbau das moderne Leben nach der Oktoberrevolution zeigen. In der auch als E-Book erhältlichen, von der Universität Basel angenommenen Dissertation [1] schlägt Lenka Fehrenbach ein Kapitel der russischen Industriefotografie auf, das bislang kaum Beachtung fand. Es geht um die ebenfalls mit Verwertungsinteressen verbundene 'Bilderwelt' seit den 1860er Jahren im Zarenreich, das punktuell bereits einen hohen Grad an Industrialisierung erreichte. Einleitend werden erläutert: die archivalische Situation, der Untersuchungszeitraum, der Forschungskontext zur Geschichte der russischen Industrialisierung und ihrer Visualisierung im ausgehenden Zarenreich. Es folgen: ein historischer Überblick zur Fotografie und Industrie, zur Tradition der europäischen Fabrikmalerei sowie zum Verhältnis von 'Lichtbildern' und den neuen Produktionsweisen. Im Zentrum steht die jeweilige kulturelle Kodierung des Betrachtens (61).

Hervorzuheben ist die aufwendige Recherche von Originalfotografien vor allem in russischen Archiven sowie deren Erstveröffentlichungen in zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften. Sorgfältig sind die Abbildungen mit dem 'Umraum' ihrer Präsentation, beispielsweise Passepartouts oder Rahmen, wiedergegeben. In den erklärenden deutschen Bildunterschriften ist die russische Originalbetitelung enthalten. Behandelt werden mehrere, ineinander verflochtene Geschichtsstränge: die russische Industrialisierung und die Entwicklung der Berufs- einschließlich der Industriefotografie mit Blick auf die Schnittstellen von Fotografie, Industrie, Technik und visueller Geschichte im länderübergreifenden Kontext (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, USA). In fünf Quellenkapiteln werden Industrialisierungsforschung und visuelle Geschichte miteinander verbunden (17): Fabrikalben als "neue Bilder eines neuen Raums" (103), Festschriften als "inszenierte Geschichte" (179), illustrierte Zeitungen (241), Bildpostkarten mit "Fabriken auf Reisen" (283) und das Image der russischen Industrie, als Fabriken im Ersten Weltkrieg salonfähig wurden (325). Ein Ausblick in die 1920er und 1930er Jahre als "ein neues Passepartout" (369) rundet das Ganze ab. Solche bildhaften Formulierungen und eine dem Untersuchungsgegenstand folgende Gliederung beleben die faktenreiche Darstellung.

Zu Beginn jeden Kapitels schildert die Autorin mit Sachverstand die wesentlichen, internationalen Entwicklungsstadien des Mediums Fotografie und die damit verbundenen Darstellungsmöglichkeiten, außerdem die wirtschaftliche Entwicklung Russlands für den betreffenden Zeitraum. Daguerreotypien als frühestes fotografisches Verfahren wurden von Berufsfotografen auch in Russland für Portraits eingesetzt. Durch Talbots Papier-Negativverfahren waren Salzpapierabzüge möglich, gefolgt von Glasplatten mit dem nassen Kollodiumverfahren, darauf wiederum aufbauend die Gelatine-Trockenplatte. Disdéris Erfindung der Carte-de-Visite führte zu den Fotoalben, die vorrangig bürgerlichen Repräsentationszwecken dienten. Eine kritische Haltung gegenüber der Industrialisierung in Teilen der russischen Elite im Zarenreich (59) veranlasste Unternehmer, ihre Betriebe im wahrsten Sinne des Wortes in ein positives Licht zu rücken. Es sind inszenierte Werk- und Arbeitsdarstellungen aus der Sicht der 'Herrschenden' (der Fabrikbesitzer) in Firmenfestschriften, illustrierten Zeitschriften, in Werbung und Druckgrafik, auf Postkarten und in Fabrikalben, die genau 'durchleuchtet' und deren Absichten damit offensichtlich werden. Die prägnanten, nicht zu ausführlichen Bildbeschreibungen mit einem guten Gespür für die intendierte Aussage legen die Funktionalität der Bilder sowie ihren jeweiligen internen und externen Verwendungszweck dar.

Ein besonderes Beispiel im vorliegenden Buch sei hier, nicht zuletzt wegen der sinnfälligen Beschreibung, exemplarisch vorgestellt. Es handelt sich um eine Art Sammelmappe, die von der Waffenfabrik in Tula 1873 in Auftrag gegeben wurde (113) und die ersten Innenaufnahmen aus Werkstätten einer russischen Fabrik enthält. Ihre Auffassung von Fotografie als Bild und Objekt gleichermaßen (103) lässt die Historikerin Fehrenbach dieses 'Album' nicht nur als solches sehen, vielmehr wird von der heutigen Präsentationsform in der Fotoabteilung der Russischen Staatsbibliothek ausgegangen und auch der Erhaltungszustand als Teil der Geschichte beschrieben. So weist der mit blauem Samt überzogene und mit Goldschmiedearbeiten verzierte Deckel eine Beschädigung auf, die durch das Entfernen des zaristischen doppelköpfigen Adlers, vermutlich nach der Machtübernahme der Bolschewiki entstand (Abb. 4). Als Geschenk an den Zaren gedacht, demonstriert es im Sinne von Marcel Mauss und Pierre Bourdieu zugleich Reichtum und Macht der Gebenden. "Neben der kostspieligen Schatulle unterstrichen die großformatigen Abzüge die Exklusivität des Geschenks. Die Bilder spiegelten den neuesten Stand der fotografischen Technik. Insbesondere die Innenaufnahmen demonstrierten das große Können des Fotografen, der für die Albuminabzüge [von Glasplatten-Negativen] die teuersten und besten Chemikalien und Materialien verwendete, die 1873 in Westeuropa erhältlich waren. Auf diese hohe Qualität legten die Auftraggeber nur im Falle des Herrschergeschenks Wert. Die Unternehmensleitung gab eine zweite Mappe mit Abzügen derselben Negative in Auftrag. Diese Fotografien waren aus in Russland handelsüblichem Fotopapier" (117).

Die Sichtung einer Fülle von Originalmaterial in russischen Archiven evoziert eine detailreiche, fast zu ausführliche Darlegung auf 476 Druckseiten. Durch die klare Gliederung besteht jedoch die Möglichkeit, die jeweils mit einer Einführung beginnenden und einem Fazit endenden Kapitel unabhängig voneinander zu lesen. [2] Einleitung sowie Zusammenfassung am Buchende leisten ein übriges. Gut lesbar ist die komplexe Arbeit dank des angenehmen Schreibflusses, in den die Fakten und Interpretationen eingebunden sind. Das Abbildungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister helfen dabei. Insgesamt handelt es sich um eine wichtige und empfehlenswerte, von umfassendem Verständnis für das Medium Fotografie und seine Geschichte geprägte Untersuchung der Bildproduktion während der russischen Industrialisierung vor dem neuen propagandistischen Blick der jungen Sowjetunion.


Anmerkungen:

[1] Lenka Fehrenbach: Bildfabriken. Industrie und Fotografie im Zarenreich (1860-1917), Paderborn 2020 [E-Book], siehe; https://www.schoeningh.de/view/title/55074 [02.08.2021].

[2] Auf der Verlagsseite können die Kapitel einzeln als pdf-Dateien heruntergeladen werden.

Gabriele Betancourt Nuñez