Rezension über:

Joost Welten: Die vergessenen Prinzessinnen von Thorn (1700-1794), Regensburg: Schnell & Steiner 2021, 512 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7954-3648-3, EUR 39,90
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Rezension von:
Teresa Schröder-Stapper
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Teresa Schröder-Stapper: Rezension von: Joost Welten: Die vergessenen Prinzessinnen von Thorn (1700-1794), Regensburg: Schnell & Steiner 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 11 [15.11.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/11/36418.html


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Joost Welten: Die vergessenen Prinzessinnen von Thorn (1700-1794)

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Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit von Joost Welten über die Stiftsdamen des adligen Damenstiftes Thorn in den heutigen Niederlanden ist eine Ehrentafel, die die Äbtissin Anna Juliana Gräfin von Manderscheid-Blankenheim Anfang des 18. Jahrhunderts anfertigen ließ. Neben ihrem Portrait und Wappen im Zentrum, die insbesondere durch die Ausschmückung mit Krone, Schwert, Stab und Hermelin ihr herrschaftliches Selbstverständnis zum Ausdruck bringen, finden sich auf dem Gemälde die Wappen der Dechantin, ebenfalls mittig herausgehoben, flankiert von den Wappen aller weiteren Stiftsdamen, sowie, durch eine Ansicht der Stiftskirche deutlich abgesetzt, der Kanoniker. Anordnung, Größe und Ausstattung der Wappen spiegeln die ständische Hierarchie im Stift wieder, an dessen Spitze die hochadlige Äbtissin stand. Das Fehlen "jegliche[n] religiöse[n] Element[es]" (8) auf dem Gemälde führt Welten zu der grundlegenden These, dass nicht der Glaube, sondern das hochadlige Selbstverständnis die "Hauptrolle im Leben der Stiftdamen spielte" (8). Welten will in seinem Buch "das Leben der Stiftsdamen in Thorn vor dem Hintergrund der Lebenswelt des Hochadels [betrachten]". Dabei verzichtet er bewusst auf einen institutionengeschichtlichen Zugang und will "stattdessen versuchen, dem Alltag der Frauen so nah wie möglich zu kommen" (19). Er sieht hier ein Desiderat der Forschung, welche sich weder für Damenstifte im Allgemeinen sowie Thorn im Besonderen interessiert habe und auch erst langsam das Leben hochadliger Frauen in den Blick nehme. Diese Einschätzung scheint mir vor dem Hintergrund sowohl der Arbeiten von Hartwich Kersken zu Thorn, Ute Küppers-Braun zu Essen und Thorn sowie meiner Studie zu Essen, Herford und Quedlinburg [1] als auch der vielfältigen Forschungslandschaft zu den Handlungsspielräumen (hoch-)adliger Frauen mittlerweile etwas überholt.

Methodisch wählt Welten einen biographischen Zugang. Am umfangreichsten sind seine Ausführungen zu Maria Kunigunde von Sachsen, der letzten Äbtissin des Reichsstiftes Thorn sowie in Personalunion des Reichsstiftes Essen, die am Anfang seiner Arbeit stehen. Dabei geht es ihm nicht allein um ihre Zeit als Äbtissin, sondern ebenso um ihre adlige Sozialisation von Kindesbeinen an, welcher er sich in thematischen Kapiteln zu Musik und Theater am Dresdener Hof sowie der adligen Jagd widmet. Stärker chronologisch zeichnet er daraufhin den Weg Maria Kunigundes nach Thorn nach: das gescheiterte Eheprojekt mit Joseph II., die Wahlverhandlungen und Wahl zur Äbtissin. Besonders aufschlussreich gestaltet sich das Kapitel zur Residenz in Thorn, welche Maria Kunigunde aufwendig ausbauen ließ. Damit gelingt es Welten, das von der Forschung bisher gezeichnete Bild, Maria Kunigunde habe sich wenig für ihre beiden Stifte interessiert, zumindest im Hinblick auf Thorn zu relativieren.

In drei weiteren Kapiteln nimmt Welten andere gräfliche und fürstliche Stiftsdamen, die etwa zur gleichen Zeit wie Maria Kunigunde von Sachsen im Stift Thorn eine Präbende besaßen, sowie weitere adlige Frauen aus deren verwandtschaftlichem Umfeld exemplarisch in den Blick. Dabei geht es ihm erneut darum, ihre adlige Sozialisation, ihre Ausbildung in anderen Klöstern und Stiften der Region, die Umstände ihrer Aufnahme ins Stift Thorn sowie ihr Leben als Stiftsdame nachzuzeichnen. Der rote Faden, der sich jeweils durch die verschiedenen biographischen Skizzen zieht, sind die Geldsorgen, mit denen die verschiedenen Stiftsdamen zu kämpfen hatten. Eine solche Beobachtung widerspricht nicht allein der eingangs gemachten Feststellung des Autors, wonach "das Stift Thorn die Stiftsdamen mit großzügigen Einkünften [ausstatte], sodass sie finanziell unabhängig [seien]" (14), sondern auch der längst überholten These von der Versorgungsfunktion der Reichskirche für die Nachkömmlinge des Hochadels. Vielmehr waren die Stiftsdamen auf finanzielle Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilien angewiesen - wie Joost Welten auch eindrücklich schildert -, um eine ihrem hochadligen Stand entsprechende Lebensart an den Tag zu legen, die ihr Umfeld im Stift sowie an den verschiedenen Höfen von ihnen erwartete. Hier zeigt sich einmal mehr das auch im Hinblick auf das Repräsentationsbedürfnis ihrer männlichen Verwandten im Reichsgrafen- und Fürstenstand zu beobachtende Problem, dass die erzielten Einkünfte selten die Kosten für einen repräsentativen Lebensstil deckten, von dem man aber insbesondere in der Konkurrenz mit neuadligen Familien ebenso wie den gekrönten Dynastien nicht abrücken konnte. [2] In einem letzten Kapitel werden noch einmal verschiedene Facetten des Alltagslebens der Stiftsdamen betrachtet, die eben wenig mit dem religiösen Leben in einem Kloster zu tun hatten.

Joost Welten verzichtet in seiner Arbeit auf Fußnoten zu Gunsten von eher spärlich eingesetzten Endnoten und visiert damit einen breiten Rezipientenkreis an. Hierfür spricht auch die konsequente Übersetzung aller vor allem französischsprachigen Quellenzitate, die reiche Bebilderung des Bandes sowie eine alltagsnahe, mitunter sehr blumige ("Wer eine standesgemäße Ehepartnerin sucht, ist gut beraten, sich unter den Stiftsdamen in Thorn umzusehen.", (16); "Sie leben in einem goldenen Käfig [...]", (19)) und immer wieder auch anachronistische Sprache ("Gabriela ist eine Fashionista der ersten Stunde", (299)). Die Darstellung wirkt mitunter anekdotenhaft, wenn beispielsweise Ereignisse angeführt werden, die vom eigentlichen Gegenstand abweichen wie der Hinweis auf eine 'wahnsinnige' Kammerzofe, die ins "Irrenhaus" gebracht worden sei (378), oder die Mordpläne Herzogin Augusta Elisabeths von Württemberg gegenüber ihrem Mann, Karl Anselm Fürst von Thurn und Taxis (321-324). Zudem scheint mir die Einschätzung des Autors, der in innerfamiliärem Streit um Unterhalt oder Erbe einen emanzipatorischen Akt sehen will, zu weitreichend. Forschungen zu innerdynastischen Konflikten haben wiederholt betont, dass sich ein solcher Widerspruch im Rahmen dynastischer Norm- und Wertehorizonte bewegte und nur selten mit einem Bruch einherging. [3]

Das wesentliche Verdienst der quellengesättigten Studie von Joost Welten stellt hingegen die Recherche und Auswertung umfangreicher Briefbestände aus belgischen, deutschen, französischen und niederländischen öffentlichen und privaten Archiven dar. Auf deren Grundlage gelingt es ihm, das transnational agierende Netzwerk vor allem weiblicher Akteure der im Stift Thorn interessierten Grafen- und Fürstenfamilien zu rekonstruieren. Das Stift Thorn und seine Mitglieder nahmen in diesem Netzwerk eine wichtige Scharnierfunktion ein. Damit leistet Weltens Studie nicht nur einen Beitrag zur gut etablierten Kinship-Forschung, sondern lenkt den Blick zugleich auf die engen personellen und institutionellen Verflechtungen zwischen dem Alten Reich, Frankreich und den Niederlanden in dieser Region.


Anmerkungen:

[1] Hartwich Kersken: Zwischen Glaube und Welt. Studien zur Geschichte der religiösen Frauengemeinschaft Thorn von der Gründung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Maaslandse Monografieen, Bd. 81), Hilversum 2016; Ute Küppers-Braun: Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiweltlichen Damenstift Essen (1605-1803). Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Stifte Thorn, Elten, Vreden und St. Ursula in Köln (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 8), Münster 1997; Teresa Schröder-Stapper: Fürstäbtissinnen. Frühneuzeitliche Stiftsherrschaften zwischen Verwandtschaft, Lokalgewalten und Reichsverband (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Köln / Weimar / Wien 2015.

[2] Ronald G. Asch: Der Adel und das Geld. Zwischen demonstrativer Verschwendung und Bewahrung des Erbes, in: Decorum und Mammon im Widerstreit. Adeliges Wirtschaftshandeln zwischen Standesprofilen, Profitstreben und ökonomischer Notwendigkeit (Höfische Kultur interdisziplinär (HKI) - Schriften und Materialien des Rudolstädter Arbeitskreises zur Residenzkultur, Band 4), hg. v. Annette C. Cremer / Alexander Jendorff, Heidelberg 2022, 81-106.

[3] U.a. Jörg Rogge: Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel. Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 49), Stuttgart 2002.

Teresa Schröder-Stapper