Rezension über:

Johannes Jansen: Wie Geschichtsschulbücher erzählen. Narratologische, transtextuelle und didaktische Perspektiven (= Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 44), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 424 S., ISBN 978-3-412-52419-7, EUR 55,00
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Rezension von:
Peter Geiss
Abteilung Didaktik der Geschichte, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Peter Geiss: Rezension von: Johannes Jansen: Wie Geschichtsschulbücher erzählen. Narratologische, transtextuelle und didaktische Perspektiven, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 5 [15.05.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/05/36936.html


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Johannes Jansen: Wie Geschichtsschulbücher erzählen

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Mit seiner narratologisch geschulten Analyse von Geschichtsschulbüchern eröffnet Johannes Jansen neue Perspektiven auf ein altes Medium des historischen Lernens, das auch die massiv voranschreitende Digitalisierung bislang nicht verdrängt hat. Angesichts der Flut ungeprüfter Information im Netz darf sich das klassische Lehrwerk vielleicht sogar auf ein unverhofft langes Weiterleben freuen, sei es im digitalen Gewand oder ganz altmodisch von Stromquellen und W-LAN unabhängig als Druckerzeugnis.

Jansen betrachtet Geschichtsschulbücher zu Recht als ein konzeptionelles Ganzes, in dem sich das Erzählen nicht nur auf den Darstellungstext beschränkt, sondern auch Arbeitsaufträge, Quellen, weitere Materialien und Paratexte umfasst, also z.B. kontextualisierende Einleitungen in Quellenauszüge. Diese Erweiterung des Narrationsbegriffs ist überaus erkenntnisfördernd, da sie unter anderem mit der Illusion aufräumt, ein quellenreiches und von längeren Darstellungstexten weitgehend freies Schulbuch - wie Heinz Dieter Schmids paradigmatische Fragen an die Geschichte - würde keine autoritative Erzählung bieten. Jansen spricht mit Blick auf dieses revolutionäre Lehrwerk der 1970er Jahre vielmehr treffend davon, dass die "Erzählung außerhalb des Schulbuchs liegen" könne (136). Damit meint er, dass auch ein ohne zusammenhängende Darstellung auskommendes Lehrwerk in seiner Materialstruktur so durchkomponiert sein kann, dass es in den Köpfen seiner jungen Leserschaft fast zwingend eine bestimmte Narration erzeugen muss. [1]

Die Lektüre von Jansens Studie fordert vor allem von literaturtheoretisch nicht stark vorgebildeten Leserinnen und Lesern ein hohes Maß an Konzentration: Dies gilt insbesondere für die ersten vier Kapitel, die sich mit Grundlagen der Erzähltheorie und - spezifischer - der narratologisch informierten Analyse von Schulbüchern befassen. Aber die Lektüre dieser theoretisch dichten und terminologisch voraussetzungsreichen Teile wird reich belohnt: Denn die zunächst hinter der Abstraktion zurückstehende Veranschaulichung folgt ab dem sechsten Kapitel, das die Behandlung des Ersten Weltkrieges in ausgewählten Schulgeschichtsbüchern zwischen 1921 und 2017 in den Blick nimmt. Zwei Entscheidungen des Verfassers sind hier als besonders überzeugend hervorzuheben: Er hat zum einen den Mut, sich gut begründet auf eine recht begrenzte Auswahl von Schulbüchern zu beschränken, was eine wesentlich präzisere Untersuchung narrativer Zusammenhänge ermöglicht als ein gewaltiges Korpus, das nur oberflächliche Beobachtungen zugelassen hätte (121f.). Zum anderen weiß er das Erkenntnispotenzial des diachron vergleichenden Blicks zu nutzen, indem er der Schulbuchentwicklung über fast ein ganzes Jahrhundert folgt. Hier kann Jansen zeigen, wie die narrative Autorität des zunächst fast allmächtigen Darstellungstextes nach 1945 im Laufe der Jahrzehnte reduziert wird (153), wobei sie seiner Analyse zufolge nie ganz schwindet (s.u.). Auch signifikante Veränderungen der "Schulbuchstimme" - etwa bei der Verwendung des kollektiven "Wir" - kann er in der Diachronie verdeutlichen: Dabei unterscheidet er im Rekurs auf Gérard Genette und Wolf Schmid den "homodiegetischen" Erzähler, der sich als "Teil der erzählten [historischen] Welt" präsentiere, vom "heterodiegetischen", wie er seit etwa 1945/50 in Schulbuchdarstellungen des Ersten Weltkrieges dominiere, ohne dass jedoch eine unüberwindliche Trennlinie zwischen beiden Typen zu sehen sei (183f.).

Sehr originell und hilfreich ist die folgende Metapher, die Jansen geprägt hat: "Jede diskursive Beteiligung findet in aktuellen Geschichtsschulbüchern im goldenen Käfig des Verfassertextes statt, also in einem nicht hinterfragten, systemisch offenbar nicht-hinterfragbaren, diskursiven Raum, in dem sich die Schülerinnen und Schüler bequem, aber historiographisch eben auch begrenzt bewegen können [...]" (356). Zu Recht stellt Jansen fest, dass auch Aufgaben kein Gegengewicht zur Deutungsmacht des Verfassertextes bilden, sondern diese eher noch steigern, da sie in der Regel zwar zur kritischen Auseinandersetzung mit Quellen und Auszügen aus Forschungsliteratur auffordern, die vermeintlich 'nur sachlich darstellenden' Teile des Lehrwerks aber aus dem Fokus der Kritik und Problematisierung ausnehmen. Dies veranlasst den Autor, das Zusammenspiel der Komponenten Darstellungstext und Aufgaben überzeugend als ein "sich selbst stabilisierendes System" (355) zu charakterisieren. Damit ist ein wunder Punkt nicht nur der Schulbuchgestaltung, sondern darüber hinaus potenziell jeder Unterrichtskonzeption angesprochen, die Schülerinnen und Schüler in einer aktiven Rolle an jenem Vorgang beteiligen will, den Johann Gustav Droysen mit großem Einfluss auf die von Jörn Rüsen maßgeblich geprägte narrativistische Geschichtsdidaktik als die deutende Verwandlung von "Geschäften" in "Geschichte" charakterisiert hat. [2]

Da ein demokratischer Geschichtsunterricht aber kaum auf eine solche Form der Teilhabe wird verzichten dürfen, kann Jansens Studie hier über den Bereich der Schulbücher hinaus wichtige Reflexionsprozesse anstoßen: Wie gelingt es, die für jede komplexere historische Denkleistung unverzichtbare Bereitstellung von Fachwissen so zu gestalten, dass der Unterricht nicht in der mehr oder minder unbewussten Reproduktion sakrosankter Narrationen erstarrt, die - was die epistemische Intransparenz noch erhöht - irreführend als das Produkt selbständiger Erarbeitung getarnt werden? Auch wenn Jansen verständlicherweise am Ende seiner Studie kein fertiges "Rezept" für die Lösung dieses schwierigen Problems anbieten kann, liefert er doch wichtige Impulse, die sich nicht nur für die Analyse, sondern auch für die Produktion von Geschichtsschulbüchern als sehr fruchtbar erweisen könnten: So empfiehlt er etwa, die Person(en) hinter dem Darstellungstext deutlicher sichtbar zu machen und so ein höheres Maß an Transparenz hinsichtlich der Frage herzustellen, wer da überhaupt erzählt und unter welchen Bedingungen dies geschieht (381). In dieselbe Richtung weist seine Idee, den redaktionellen Prozess der Schulbuchproduktion und seine Schwierigkeiten durch explizite Thematisierung im Lehrwerk selbst zu beleuchten (387). Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre von Jansens Studie nicht zuletzt all jenen wärmstens zu empfehlen, die sich mit der Gestaltung historischer Bildungsangebote beschäftigen und das eigene konzeptionelle Handeln im Sinne der Herstellung von Transparenz bewusster reflektieren möchten. In Teilen sind Jansens Beobachtungen zum Umgang mit Deutungsmacht auch auf außerschulische Felder der Public History übertragbar, so etwa auf die Konzeption von Ausstellungen oder Doku-Dramen, deren Glaubwürdigkeit davon profitieren könnte, dass sich ein erzählendes und fast unvermeidlich fehlbares und perspektivisch beschränktes Ich oder Wir nicht versteckt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. zur Illusion der Deutungsoffenheit des Arbeitsunterrichts nach Schmid in gewollt polemischer Zuspitzung bereits: Gerhard Schoebe: Quellen, Quellen, Quellen - Polemik gegen ein verbreitetes Unterrichtskonzept, in: GWU 34 (1983/5), 302.

[2] Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik, Leipzig 1882, § 45, S. 25, Digitalisat: https://archive.org/details/grundrissderhist00droyuoft/ [15.04.2023]; zur Bedeutung Droysens für Rüsens Geschichtstheorie vgl. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik 1: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 58ff., Digitalisat BSB München, https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00048494_00001.html [15.04.2023].

Peter Geiss