Mit dem von Gudrun Gersmann und Hubertus Kohle herausgegebenen Sammelband "Frankreich 1871-1914" kommt ein wissenschaftliches Unternehmen zum Abschluss, das in der weitverzweigten Forschungslandschaft zur Französischen Revolution immer noch weitgehend einzigartig ist. In vier Bänden widmeten sich die Herausgeber und ihre Mitarbeiter dem "Nachleben" der Revolution im "langen" 19. Jahrhundert, untersuchten die Spuren der "Grande Révolution" in Politik, Wirtschaft, Kunst, Literatur, Geschichtsschreibung und Musik sowie die Mythen, die sich in das kollektive Gedächtnis der Franzosen eingeschrieben haben.
Der Blick auf die Dritte Republik verspricht im Vergleich zu den vorangegangenen Phasen der Revolutionserinnerung interessante neue Aspekte. Schließlich sind die Jahre 1871-1914 dadurch gekennzeichnet, dass die Revolution in immer weitere Ferne rückt: Waren noch die Akteure der Zweiten Republik geprägt von den Erzählungen der Veteranen, die sie oft genug noch persönlich kannten, so verlieren sich diese Bezüge nach 1870 zunehmend. Die Revolution tritt aus dem kommunikativen Gedächtnis heraus, die kulturellen Überformungen beginnen endgültig zu dominieren. So erkennt auch Klaus Deinet zwischen 1870 und 1880 eine deutliche Zäsur in der Geschichte des "Nachlebens" der Revolution, nämlich das Ende der - in Deinets Worten - "mimetischen" Erinnerung an die "grands ancêtres", die während der Pariser Kommune noch einmal einen späten Höhepunkt erlebt hatte. [1] Und nicht ohne Grund hatte François Furet schon 1988 das Reformwerk der gemäßigten, "opportunistischen" Republikaner um Jules Ferry in den 1880er-Jahren als den eigentlichen Abschluss des revolutionären Prozesses gedeutet, der gut 100 Jahre zuvor mit der Staatskrise des Ancien Régime begonnen hatte: [2] Zum ersten Mal wird daher auch eine Betrachtung der Revolution zumindest denkbar, die nicht mehr zwangsläufig die Perspektive des "Teilnehmers" am revolutionären Geschehen einnimmt.
Ein Zeichen für eine solche zunehmende Akzeptanz der Revolution sehen die beiden Herausgeber in der in den 1880er-Jahren beginnenden Musealisierung der Revolution. So wurde, wie Philippe Bordès darlegt, 1881 im Pariser stadthistorischen Museum, dem Musée Carnavalet, ein Saal eingerichtet, der ausschließlich der revolutionären Kunst gewidmet war. Ein Jahr darauf wurde auch das Musée Grévin eröffnet, das Pariser Wachsfigurenkabinett, in dem in mehreren Räumen verschiedene Episoden der Revolutionsgeschichte dargestellt wurden. Aber stützen diese beiden Beispiele tatsächlich die oben zitierte These? Initiatoren der Revolutionsabteilung des Musée Carnavalet waren Männer, die stark in der Pariser Stadtpolitik engagiert waren und großen Wert auf die Verteidigung des revolutionären Erbes legten. "Musealisierung" war in ihren Augen sicherlich kein Zeichen für Distanz, sondern vielmehr für Aktualisierung. Und auch das Musée Grévin präsentierte die Revolution alles andere als wertfrei, wie Gudrun Gersmann selbst in ihrem sehr lesenswerten Beitrag zeigt: Die Konzentration auf die Leidensgeschichte der Königsfamilie und die auffällige "Absenz des Politischen" gibt der Schau eine betont anti-revolutionäre, royalistische Prägung, die somit durchaus als ein Zeichen für das Weiterbestehen des säkularen Konfliktes zwischen "bleus" und "blancs" gedeutet werden kann.
Eine ähnliche Interpretation legen auch diejenigen Beiträge nahe, die sich mit verschiedenen Aspekten der 1889 begangenen Hundertjahrfeier der Revolution beschäftigen. Hubertus Kohle widmet seinen Beitrag dem Eiffelturm, der sicherlich derjenige Teil der umfang- und facettenreichen Feierlichkeiten war, der die größte Langzeitwirkung entfaltet hat. Kohle demonstriert die Verbindungen zwischen der betont modernen Eisenarchitektur Gustave Eiffels und den politisch-sozialen Idealen der regierenden Republikaner, unter deren Ägide das "Centenaire" begangen wurde. Auch ohne allzu sehr die symbolische Konkurrenz zwischen diesem (selbst vollkommen zweckfreien) Monument der Technik und der Diesseitigkeit einerseits und den Kirchen der Hauptstadt als Monumenten der Jenseitigkeit andererseits zu strapazieren, sind doch die politischen Implikationen der "tour de 300 mètres", die Verbindungen von politischem Fortschritt, der mit dem Schlüsseldatum 1789 identifiziert wird, und wissenschaftlichem Fortschritt, den das sensationelle Bauwerk repräsentiert, unverkennbar. Der Eiffelturm, das antiklassische Bauwerk par excellence, gehörte, wie Kohle schreibt, neben der Schule, den Zeitungen, der öffentlichen Rede zu jenem volkspädagogischen Instrumentarium der bürgerlichen Republikaner, mit dem es diesen gelang, das "peuple" auf die Prinzipien der modernen Industriegesellschaft einzuschwören.
Ganz ähnliche Absichten verfolgten die beiden großen Kunstschauen, die im Rahmen der Weltausstellung auf dem Marsfeld gezeigt wurden. Die Geschichte der Kunst seit 1789 wurde hier konsequent als eine unaufhaltsame Entwicklung hin zum Naturalismus präsentiert. Michael F. Zimmermann illustriert dies durch einen eindringlichen Vergleich zwischen der Ausstellung von 1889 und der Vorgängerschau von 1878, die ebenfalls im Rahmen der Weltausstellung gezeigt wurde. Stand hier noch ganz die akademische Historienmalerei im Vordergrund, so hatte sich dies zehn Jahre später grundlegend geändert. Zwar werden die zuvor gezeigten Maler nicht einfach ignoriert, aber sie werden in eine linear verlaufende Erfolgsgeschichte des Naturalismus integriert, als dessen ideale Verkörperung Manet gefeiert wird und der, so die Hoffnung des führenden republikanischen Kulturpolitikers der 1880er-Jahre Antonin Proust, die Kunst der republikanischen Zukunft sein würde.
Zwei Jahre nach dem "Centenaire" (und ein Jahr vor dem Jubiläum der Ersten Republik von 1792) sollten zwei weitere Debatten zeigen, wie umstritten die Revolution und ihr Erbe auch jetzt noch war. Die Auseinandersetzung um Victorien Sardous Drama "Thermidor" ist wegen der großen Publizität, die ihr die Intervention Georges Clemenceaus verschaffte, der hier sein Diktum "La Révolution est un bloc" prägte, auch heute noch gut bekannt; dies gilt jedoch weniger für den Skandal, der sich fast zeitgleich um die Aufstellung einer Marat-Statue des Pariser Bildhauers Jean Baffier im Parc Montsouris im Süden der Stadt entwickelte und den Neil McWilliam in seinem Beitrag analysiert. Marat als Symbolfigur des extremen Jakobinismus und der "terreur" spaltete dabei nicht nur Linke und Rechte, sondern auch die Republikaner in sich: Während deren gemäßigter, "opportunistischer" Flügel seit dem Aufstieg zur Macht bemüht war, das revolutionäre Erbe sozusagen von dem revolutionären Akt zu befreien, ging es Radikalen und Sozialisten gerade darum, das "peuple" in Aktion zu zeigen. Der Streit um Marat war somit auch ein Streit unter Republikanern um die Deutungshoheit der Revolution, deren Erbe beide Fraktionen für sich reklamierten.
Zumindest bis Anfang der 1890er-Jahre scheint somit die Revolution ihre Sprengkraft durchaus bewahrt zu haben. Es würde sich vielleicht lohnen, einmal der Hypothese nachzugehen, ob eine "Beruhigung" der Revolutionserinnerung nach der Konsolidierung der Republik und nach den Feierlichkeiten des "Centenaire" stattgefunden hat. Justus Fetschers Analyse der Revolutionsdramen von Paul Hervieu (Théroigne de Méricourt, 1901) und Romain Rolland (Les loups, 1898; Danton, 1899; Le triomphe de la Raison, 1899; Le 14 juillet, 1902) könnte dahingehend interpretiert werden. Um die Jahrhundertwende, so Fetschers These, ist die Zeit des Revolutionsdramas vorbei: Oper (meist, wie Herbert Schneider zeigt, mit anti-revolutionärer Pointe) und bald darauf Kino - in deutlich entpolitisierter Form - übernehmen seine Funktion. Almut Franke-Postberg argumentiert dagegen in ihrem Beitrag über die Debatte um die Entschädigung der Emigranten, dass diese mit so schmerzhaften Erinnerungen verbundene Frage bis 1914 virulent blieb (wobei sich jedoch angesichts ihres recht spärlichen Materials die Frage stellt, wie signifikant diese Debatte noch war).
Insgesamt ist zu bedauern, dass die - für sich jeweils lesenswerten und informativen, jedoch zum Teil auch recht heterogenen - Beiträge nicht stärker durch leitende Fragestellungen zusammengehalten werden, von denen die oben skizzierte nur eine mögliche ist. Auch erscheint die Auswahl der Themen in einigen Fällen nicht wirklich zwingend: Wichtige Aspekte wie der gesamte Bereich der Historiographie (von Taine bis Mathiez) bleiben ausgespart, und der politische Diskurs erscheint insgesamt deutlich unterrepräsentiert. Schließlich vermisst man am Ende dieses abschließenden Bandes (der erfreulicherweise ein Register des Gesamtwerkes enthält) eine Art Resümee, den Versuch, die vielen Fäden, die in den vier Bänden gesponnen wurden, noch einmal miteinander zu verknüpfen, Kontinuitäten herauszuarbeiten und Zäsuren zu identifizieren. So bleibt letztlich auch die Frage offen, ob denn 1914 tatsächlich ein sinnvoller Schlusspunkt des gesamten Unternehmens ist. Oder sollte ein fünfter Band "Frankreich im 20. Jahrhundert" folgen?
Anmerkungen:
[1] Klaus Deinet: Die mimetische Revolution oder die französische Linke und die Re-Inszenierung der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert (1830-1871), Stuttgart 2001.
[2] François Furet: La Révolution: de Turgot à Jules Ferry, Paris 1988.
Gudrun Gersmann / Hubertus Kohle (Hgg.): Frankreich 1871-1914. Die Dritte Republik und die Französische Revolution, unter redaktioneller Mitarbeit von Beatrice Hermanns, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 239 S., 68 Abb., ISBN 978-3-515-08057-6, EUR 48,00
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