In der deutschen Öffentlichkeit herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit die Vorstellung, die deutsche Besatzung in Frankreich von 1940 bis 1944 sei im Vergleich zur deutschen Besatzung in Osteuropa eine im Wesentlichen "korrekte" Besatzungsherrschaft gewesen, bei der sich die Wehrmacht - von wenigen Ausnahmen abgesehen - den Regeln des Völkerrechts entsprechend verhalten habe. Dieses Bild wurde auch von der frühen historischen Forschung bestätigt, waren es doch vor allem die ehemaligen Offiziere und Beamten der Militärverwaltung selbst, die sich auf deutscher Seite nach 1945 zuerst der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit widmeten. Sie traten als Verfasser von Memoiren oder kriegsgeschichtlichen Studien entweder selbst publizistisch hervor oder verstanden es, zumindest als auskunftswillige Zeitzeugen die Arbeiten der Historiker in ihrem Sinne zu beeinflussen. Im Rahmen von Strafverfahren und dank einer immer unabhängigeren wissenschaftlichen Forschung zeigte sich jedoch schon seit den 1960er Jahren, dass die Deutschen auch in Frankreich Kriegsverbrechen begangen hatten, selbst wenn diese Taten in ihrem Ausmaß nicht mit denen im Osten zu vergleichen waren. [1] Trotzdem hielt die deutsche Öffentlichkeit weiter am Bild der "korrekten" Besatzungsherrschaft im Westen fest und scheint sich erst seit den 1990er Jahren endgültig von diesem Mythos zu verabschieden.
Ahlrich Meyer, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg, leistet mit seinen Forschungen seit langem einen wichtigen Beitrag dazu, diesen kollektiven Bewusstseinswandel zu fördern. So übersetzte er unter anderem das Standardwerk von Serge Klarsfeld "Vichy - Auschwitz" über die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der "Endlösung der Judenfrage" ins Deutsche. [2] Im Zusammenhang mit diesem Buch standen auch die Vorarbeiten und Recherchen zu Meyers neuester Studie über "Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung".
Ahlrich Meyer untersucht darin "zum einen die Verbindung von Maßnahmen gegen die französische Widerstandsbewegung mit der Judenverfolgung, die bereits Ende 1941 durch den Militärbefehlshaber in Frankreich eingeleitet wurde; zum anderen die Kontinuität der deutschen Repressionspolitik und ihre innere Radikalisierung, die durch den Übergang der Polizeibefugnissse von der Militärverwaltung auf den Höheren SS- und Polizeiführer weiter vorangetrieben wurde und die schließlich zum Besatzungsterror des Jahres 1944 führte" (1). Für Ahlrich Meyer war der Weg zum Massaker von Oradour-sur-Glane am 10. Juni 1944, das zum Inbegriff der deutschen Kriegsverbrechen in Frankreich wurde, "vielleicht nicht vorgezeichnet" (1). Ihm gelingt jedoch der Nachweis, dass die Repressionspolitik "ein organischer Bestandteil der deutschen Besatzungsherrschaft in Frankreich" war, denn "ohne ein kalkuliertes Maß an Unterdrückung, Gewaltsamkeit und Terror keine Sicherung dieser Herrschaft, keine Durchsetzung der wichtigsten Besatzungszwecke, keine Ausbeutung der ökonomischen Ressourcen und der Arbeitskraft des Landes für die deutsche Kriegswirtschaft" (2).
Die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich unterschied sich jedoch von der deutschen Besatzungspolitik in Polen oder in der Sowjetunion dadurch, dass die Militärverwaltung in der Anfangsphase einen den "westlichen Verhältnissen" angepassten Kurs zu verfolgen suchte, der den Deutschen das Wohlwollen der französischen Bevölkerung und die Unterstützung der französischen Regierung in Vichy sichern sollte. Tatsächlich hofften ja auch viele Franzosen nach dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 und der Gründung des "État français", dass Frankreich unter Führung von Staatschef Philippe Pétain seine nationale Souveränität bewahren und auf dem Wege der Kollaboration mit Deutschland seinen Platz in Hitlers "Neuem Europa" finden werde. Aus diesem Grunde lag die Bekämpfung des französischen Widerstandes gegen die Besatzungsmacht auch im Interesse Vichys. Ein weiterer gemeinsamer Feind waren die Juden, wobei ausländische und staatenlose Juden das erste Ziel der Verfolgung bildeten.
Auf die seit August 1941 zunehmenden Anschläge auf Angehörige der Besatzungsmacht reagierte die Militärverwaltung mit der als "Vorbeugungs- und Sühnemaßnahme" deklarierten Festnahme und Erschießung von Geiseln. Dabei war der Anteil von Juden an den hingerichteten Geiseln besonders hoch. Da der Militärbefehlshaber "polnische Verhältnisse" - also Massenerschießungen von Geiseln im Lande selbst - in Frankreich vermeiden wollte, um die Bevölkerung nicht weiter gegen sich aufzubringen, schlug er ersatzweise die Deportation von Kommunisten und Juden "nach dem Osten" vor. Hier zeigt sich die von Ahlrich Meyer hervorgehobene Verbindung zwischen Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung: Die ersten Transporte von Juden aus Frankreich in die Vernichtungslager im Frühjahr 1942 galten ausdrücklich als "Sühnemaßnahmen", und auch Razzien gegen Juden fanden unter dem Vorwand der Widerstandsbekämpfung statt. In der Endphase der Besatzung wurde jedoch die gesamte französische Zivilbevölkerung zum Feind, und je mehr die Deutschen sich von "Terroristen" und "Freischärlern" bedroht sahen, umso rücksichtsloser gingen sie bei so genannten "Säuberungsunternehmen" und "Vergeltungsmaßnahmen" gegen die Résistance vor. Oradour-sur-Glane ist dafür nur ein Beispiel.
Ahlrich Meyer zeichnet diese Entwicklung in den ersten beiden Kapiteln seines Buches über " 'Aufsichtsverwaltung' und Kollaboration. Werner Best und die deutsche Militärverwaltung in Frankreich 1940-1942" (Kapitel I) sowie über "Die 'etappenweise Lösung der Judenfrage' und der jüdische Widerstand aus deutscher Sicht" (Kapitel II) überblicksartig nach. Dabei hebt er den Anteil von jüdischen Jugendlichen und Emigranten an der Formierung des französischen Widerstandes hervor, deren besondere Rolle erst seit kurzem das Interesse der historischen Forschung gefunden hat. Es folgen sechs chronologisch ausgewählte und in sich geschlossene Detailstudien, die zum Teil zuvor auch schon an anderer Stelle veröffentlicht worden sind. So behandelt Meyer beispielsweise "Die Dossiers des Dr. Laube. Geiselerschießungen auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers im August und September 1942" (Kapitel V), "Die Razzien in Marseille im Januar 1943" (Kapitel VI) und den "Weg nach Oradour" (Kapitel VIII). Auf der Grundlage deutscher Akten aus deutschen und französischen Archiven rekonstruiert Meyer die Täterperspektive. Insgesamt geht es ihm jedoch darum, "die Erinnerung an die unzähligen Opfer der deutschen Repressionsmaßnahmen wachzuhalten" (11). Das ist Ahlrich Meyer gelungen - nicht mit falschem Pathos, sondern mit akribischer historischer Forschung.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu insbesondere auch Regina M. Delacor (Hg.): Attentate und Repressionen. Ausgewählte Dokumente zur zyklischen Eskalation des NS-Terrors im besetzten Frankreich 1941/42 (= Instrumenta; 4), Stuttgart 2000.
[2] Serge Klarsfeld: Vichy - Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der "Endlösung der Judenfrage" in Frankreich, Nördlingen 1989 (französische Originalausgabe: Vichy - Auschwitz. Le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive, 2 Bände, Paris 1983-1985).
Ahlrich Meyer: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, 279 S., ISBN 978-3-534-14966-7, EUR 44,90
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