sehepunkte 3 (2003), Nr. 3

Ute Halle / Frank Huismann / Roland Linde (Hgg.): Dörfliche Gesellschaft und ländliche Siedlung

Die Macher der großen Salierausstellung sahen sich 1988 damit konfrontiert, dass für die angestrebte Rekonstruktion mittelalterlichen Dorflebens keinerlei vollständige Ausgrabung des 11./12. Jahrhunderts herangezogen werden konnte. Dies berichtet Uta Halle, Mitherausgeberin des vorliegenden Bandes, die hiermit zugleich dessen Hauptstoßrichtung formuliert. Das gemeinsame Anliegen der vornehmlich im Ostwestfälischen beheimateten "Arbeitsgemeinschaft Dorfgeschichte", die ihre unter anderem auf zwei Tagungen zusammengetragenen Ergebnisse hier vorstellt, besteht darin, der chronischen Unterrepräsentation des Themas "Dorf" im historischen Forschungsbetrieb entgegenzuarbeiten. Diesem Ziel widmen sich Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen, nämlich Historiker, Archäologen, Geografen und Volkskundler. Präsentiert werden ihre Beiträge in drei Abteilungen. Zunächst werden die strukturellen Kategorien "Siedlung" und "Verfassung" unter der Überschrift "Die Gestalt des Dorfes" subsumiert. Weiterhin werden "Lebensformen und soziale Gruppen" betrachtet und schließlich Formen des Umgangs mit Dorfgeschichte in Vergangenheit und Gegenwart thematisiert.

Unter der Fragestellung "Dorf oder Stadt?" stellt Uta Halle zunächst anhand verschiedener westfälischer Grabungsergebnisse die Möglichkeiten, insbesondere aber die Grenzen der Aussagekraft archäologischer Einzelbefunde für die klare Zuordnung zur jeweiligen Siedlungsform dar. Ihr Beitrag liest sich vor allem als Plädoyer für eine sich analog zur Stadtkernforschung emanzipierende "Dorfkernforschung", ebenso wie für die Verbreiterung der empirischen Grundlage, sprich umfangreichere Grabungstätigkeit, da sich der Charakter einer Siedlung nur in der Gesamtschau ergründen lässt. Welche Erkenntnisse eine solch dichte Untersuchung zu Tage fördern kann, zeigt der nachfolgende Blick Hauke Kenzlers auf das sächsische Breunsdorf. Dort konnten zwei Drittel der Fläche eines verlassenen Dorfes untersucht werden. Eindrucksvoll entfaltet sich hier die Wachstumsgeschichte einer Ortschaft, wozu auch die Identifikation eines im späteren Ortsbild nicht mehr erkennbaren hochmittelalterlichen Herrenhofes zählt. Bemerkenswert sind auch die Befunde über den Wandel der in Breunsdorf ausgeübten neuzeitlichen Begräbnisriten, die sich mit schulmäßigen Kategorien des Wandels wie "Reformation" oder "Aufklärung" nur schwer in Einklang bringen lassen. Beide archäologischen Beiträge lassen keinen Zweifel daran, dass tragfähige Erkenntnisse stets aus der Kombination schriftlicher und topografisch-archäologischer Überlieferung resultieren. Die Verbindung zwischen topografischem sowie rechts- und verfassungsgeschichtlichem Blick auf das Dorf stellt der Beitrag Leopold Schüttes her. Er zeigt anhand verschiedener westfälischer Beispiele, dass die Gegebenheiten der Flur Rückschlüsse auf die gesamte innere Ordnung einer Siedlung ermöglichen, und dass Siedlungsformen nicht primär landschaftlich bedingt sind. Auf dieser Grundlage kann Schütte beispielsweise anschaulich die populäre Vorstellung vom Schultenhof als ältester Stätte und Ausgangspunkt der Besiedlung widerlegen.

Ganz auf die verfassungsgeschichtliche Perspektive verlegt sich Frank Huismann, der die spätmittelalterliche "Dörfliche Gemeindebildung und -verfassung im Hochstift Paderborn" thematisiert. Er zeigt auf, dass die äußerlich und verfassungsmäßig fest gefügte Gemeinde, vielfach anhand süddeutscher Beispiele beschrieben, auch im Ostwestfälischen in unterschiedlicher Intensität nachweisbar ist. Bemerkenswert erscheint zudem, dass der Autor bei seiner Beschreibung dörflich-gemeindlicher Strukturen praktisch ohne den Faktor der Landesherrschaft auskommt. Abgerundet wird das Bild der ersten Abteilung schließlich durch einen Blick in den Südwesten Deutschlands. Für diesen konstatiert Casimir Bumiller, dass es trotz einer wahren Flut an Ortsgeschichten an einer systematischen und überlokal tragfähigen Synthese zur Dorfgeschichte mangele. Erst diese würde es allerdings erlauben, etwa das durch den Autor für die Grafschaft Zollern im 15. Jahrhundert ermittelte "extreme" soziale Gefälle für den gesamten Südwesten anzunehmen.

Die im "Inneren des Dorfes" angestellten sozialgeschichtlichen Betrachtungen der zweiten Abteilung betreffen mit einer Ausnahme die Zustände vor 1800. Am Anfang stehen Roland Lindes vergleichende Betrachtungen über die Formen der Namensvererbung in Lippe und Wittgenstein, bei der Familienname und Hofname konkurrierten. Diese Studie stellt nicht allein genealogische Fallstricke vor, sondern thematisiert die Zusammenhänge zwischen Vererbungspraxis und gängigen Leiheformen, wobei für einen Zusammenhang zwischen Hofprinzip und Eigenhörigenrecht plädiert wird. Zugleich löst Linde den Anspruch einer "überregionalen Perspektive" auch innerhalb eines einzelnen Beitrages ein. Eine Beziehung zwischen frühneuzeitlichen Hausformen und den Lebensbedingungen kleinbäuerlicher Schichten stellt Heinrich Stiewe her, der eine Reihe lippischer Kötterstätten in ihrer Bausubstanz sowie in ihrer schriftlichen Überlieferung untersucht. Der Autor stellt dabei eine nicht zu unterschätzende Bauqualität fest, aber auch das längere Verharren in älteren Bauformen, als dies bei Vollbauernhöfen der Fall war. Zu wünschen sei eine Verbreiterung der empirischen Grundlage zur Verifizierung solcher Befunde, insbesondere durch Kartierung der erhaltenen Bausubstanz.

Den ländlichen Krugwirtschaften des Hochstifts Paderborn im 17. und 18. Jahrhundert widmet sich Dina van Faassen und zeigt an diesem regionalen Beispiel auf, wie vielschichtig die Fragestellungen an diesen Gegenstand sein können. Dies ergibt sich unter anderem aus dem gewissermaßen "gespaltenen" Blick der Herrschaft auf die Krüge, in dem fiskalische Erwägungen und solche der Fürsorge und Kontrolle sich überlagerten. Künftige Forschungen möchte die Autorin unter anderem der Sozialstruktur der Krüger gewidmet sehen, wobei ihre Befunde eine starke Präsenz von lokalen Herrschaftsvertretern wie Vögten und Bauerrichtern vermuten lassen.

Einen zukunftsweisenden Beitrag liefert Nicolas Rügge über die frühneuzeitlichen Küster des lippischen Amtes Varenholz. Rügge betrachtet diesen im Gegensatz zum dörflichen Pfarrer bisher kaum beachteten lokalen Funktionsträger hinsichtlich Status und Funktion und stößt dabei auf überraschend wohlhabende, gebildete und sozial aufstrebende Küster, ablesbar unter anderem an ihrem Heiratsverhalten. In ihrer Tätigkeit scheint eine wichtige Vermittlerposition zwischen Dorf und der herrschaftlichen Sphäre und ihren Normen auf.

Einen gewissen zeitlichen Bruch stellt sodann der Aufsatz Dieter Zorembas über Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in lippischen Dörfern dar. Hier wird ein viel diskutiertes Thema anhand intensiv durchforschter lokaler Beispiele aufgerollt. Dabei lässt der Autor keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Status der ländlichen Zwangsarbeiter trotz vergleichsweise glimpflicher Schicksale ein rechtloser und tendenziell bedrohter war. Ausführlich zitiert er aus Briefen, die Betroffene in den 90er-Jahren an ihn gerichtet haben - ein Quellencorpus, über das man gern mehr erfahren hätte.

Der dritte Abschnitt nähert sich schließlich unter der Überschrift "Geschichte auf dem Dorf" unterschiedlichen Formen dörflicher Geschichtsrezeption in Vergangenheit und Gegenwart an. Zunächst wird das Werk des an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhunderts wirkenden badischen Dorfchronisten Viktor Gutgsell durch Nicole Kuprian vorgestellt. Hierbei beschäftigt sich die Autorin nicht mit Inhalten, sondern mit Entstehungsbedingungen und dem Einfluss anderer Gattungen wie Ortspfarrchroniken oder Wirtschaftsbüchern. Der Beitrag ist vor allem quellenkundlich aufschlussreich. Beigegeben ist ein Raster der regelmäßig wiederkehrenden Rubriken, deren Interesse insbesondere in einer Verzahnung mit entsprechenden Elementen des staatlichen Berichtswesens stehen dürfte.

Zwei umfangreiche Aufsätze sind dem Themenkomplex "Drittes Reich" gewidmet. Markus Moors stellt zunächst die Quellengattung der zeitgenössischen Dorfchronik vor. Anhand von Beispielen aus dem Paderborner Land kommt er zu dem Ergebnis, der ländlichen Bevölkerung habe trotz grundsätzlicher Regimetreue Dorf und Katholizismus als Rückzugsraum gegen allzu weit gehende Vorstöße des Nationalsozialismus gedient. Hieraus sei durch Dorfchronistik und "Heimatforschung" nach dem Krieg ein Gegensatz konstruiert worden. Dies erscheint auch mit Blick auf andere Regionen wie das Münsterland plausibel. Allerdings wäre für die endgültige Verifizierung anspruchsvoller Thesen wie der zur Rolle der Konfession eine breiter gefächerte Quellengrundlage nötig, wie der Autor selbst zugibt. Vor allem angesichts der umfangreichen Vorarbeiten zum lippischen Nationalsozialismus böte sich hier eine vergleichende Studie an. Den Weg der äußerlich-symbolhaften Erinnerung an das Dritte Reich bis in die Gegenwart zeichnet Wulff E. Brebeck anhand der entsprechenden Objekte für das Konzentrationslager Niederhagen bei Wewelsburg nach. Eine Hauptmotivation der Dorfbevölkerung bestand hier in der Verhinderung einer "stigmatisierenden" Verbindung des Ortsnamens mit dem KZ-Begriff. Der Konflikt reicht bis in das Jahr 2000, womit zugleich eine Brücke zu aktuellen "Dorfsichten" geschlagen ist.

Christoph Köck vertritt in seinem Beitrag die These, das heutige Dorf diene in seiner äußeren Gestaltung als "Erinnerungsorgan", in dem Zeichen der Technik, des Tempos und Wandels nicht geduldet würden. Sicherlich sind die beigebrachten Beispiele, etwa die historistische Kaschierung von Telefonzellen, originell. Aber dort, wo die Stadt - und nicht nur die an der "romantischen Straße" gelegene - sich historisch gibt, tut sie vergleichbare Dinge, so dass hier nur bedingt eine Annäherung an die Kategorie "Dorf" stattfindet. Der meinungsfreudige Beitrag steht in einem erfrischenden Gegensatz zum abschließenden Blick Gerhard Henkels auf 20 Jahre geografische Dorfforschung, zumal der Autor dieser unter anderem eine wohltuende Dämpfung der in den 70er-Jahren virulenten "Modernisierung um jeden Preis" zuschreibt, zu der auch die Entwicklung einer "erhaltenden Dorferneuerung" gehört habe.

Der Gesamteindruck ist ein sehr erfreulicher, allerdings wäre für die Zukunft eine Stärkung der vergleichenden Perspektive zu wünschen. Aus dem Nebeneinander Lippes und des Paderborner Landes könnten erhellende Synthesen hervorgehen, und die "überregionale Perspektive" sollte über das Beibringen einiger nichtwestfälischer "Gastbeiträge" hinauskommen. Als Grundlage einer Tagungsdiskussion mag dies fruchtbar gewesen sein, dem Leser bleiben deren Ergebnisse jedoch naturgemäß verborgen. Ebenso tut sich in der zeitlichen Mischung der Beiträge eine Lücke zwischen den Jahren 1800 und 1933 auf. Dies wirkt sich für eine Gesamtschau um so schmerzlicher aus, als hierdurch der Umbruch der Industrialisierung wie auch die nach 1800 einsetzende Entwicklung der modernen Kommunalverfassung und -verwaltung völlig außen vor bleiben. Für die Arbeitsgemeinschaft Dorfgeschichte bleibt also noch viel zu tun.


Rezension über:

Ute Halle / Frank Huismann / Roland Linde (Hgg.): Dörfliche Gesellschaft und ländliche Siedlung. Lippe und das Hochstift Paderborn in überregionaler Perspektive (= Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe e. v.; Bd. 59), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2001, 384 S., 85 Abb., ISBN 978-3-89534-326-1, EUR 24,00

Rezension von:
Jürgen Lotterer
Karlsruhe
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Lotterer: Rezension von: Ute Halle / Frank Huismann / Roland Linde (Hgg.): Dörfliche Gesellschaft und ländliche Siedlung. Lippe und das Hochstift Paderborn in überregionaler Perspektive, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/03/2151.html


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