sehepunkte 3 (2003), Nr. 3

Regine Jägers: Duisburg im 18. Jahrhundert

In der vergleichenden Stadtgeschichtsforschung hat Duisburg bisher keine Berücksichtigung gefunden: Die preußische Kleinstadt am Niederrhein (1706 etwa 3.000 Einwohner) war weder Residenzstadt noch entspricht sie dem Typus der funktionierenden Universitätsstadt, denn die Universität blieb bedeutungslos. Regine Jägers Bonner Dissertation von 1999 stellt dennoch zwei Faktoren heraus, die Duisburg "fallstudienwürdig" machen: Da ist zum einen die Trikonfessionalität der Stadt, deren Analyse Antworten auf eine zentrale Frage der Historischen Demografie, nämlich auf den Zusammenhang von Konfession/Religion und generativem Verhalten, verspricht. Zum anderen geht die Autorin dem Sachverhalt nach, dass Duisburg vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine besondere wirtschaftliche Blüte erlebte (beruhend auf Verlags- und Manufakturwesen im Textilbereich), was zum Zuzug von außen (276-314), zu sozialer Differenzierung und autonomem Wachstum der Stadtbevölkerung führte. 1806 zählte die Stadt immerhin 4.069 Einwohner. Dabei betrachtet Jägers Duisburg nicht ausschließlich als Fallstudie, denn sowohl im Kapitel zur Sozialstruktur der Stadt als auch in denen zur Bevölkerungsbewegung und zur Familienstruktur werden die einschlägigen Studien ähnlichen Typs zu aussagekräftigen Vergleichen herangezogen (Burri: Luzern, François: Koblenz, Imhof: Gießen, Kohl: Trier, Pfister: Zürich und besonders Zschunke: Oppenheim).

Nach einer konzisen Quellenbeschreibung und einer Kompilation der Stadtgeschichte Duisburgs im 18. Jahrhundert erfolgt in Kapitel 3.2.2. (81-145) eine mustergültige Untersuchung der städtischen Sozialstruktur und Sozialtopografie in einem Jahrhundert des Wandels, wobei Jägers festhält, dass sich insbesondere bei den Katholiken Sozialschicht und Konfession deckten. Ihnen blieb der Aufstieg in die von Beamten, Professoren sowie Manufakturunternehmern und Kaufleuten gebildete Oberschicht verwehrt. Diese Oberschicht kann, so Jägers, nicht unter dem Begriff Patriziat subsumiert werden; vielmehr gab es ein Konnubium (und eine Kommensalität in Form des Clubs "Societät") der alten politischen Oberschicht mit den neuen wirtschaftlichen Führungsgruppen, erleichtert durch die Zugehörigkeit zum Luthertum und zum Calvinismus. Auch die nach Schichtzugehörigkeit differenzierte Betrachtung der Stadtviertel ist höchst aufschlussreich: Nicht die Verteilung der sozialen Gruppen in Stadtvierteln, sondern die Straßenzüge zeigten Status und Rang an.

Das exogene und endogene (!) Wachstum der Stadtbevölkerung hing, so die weiteren Ausführungen, ganz ursächlich mit den wirtschaftlichen Chancen zusammen. Regine Jägers bietet dem Leser somit einen erhellenden sozialgeschichtlichen Zugriff auf wirtschaftlich dynamische Klein- und Mittelstädte, ähnlich wie es Reininghaus für Iserlohn aufgezeigt hat (allerdings erfahren wir bei diesem weitaus mehr über das Wirtschaftsbürgertum als über die Sozialformation).

Im umfangreichsten Teil der Studie (Kapitel 4, 146-275) legt Jägers eine methodisch aufwändige Nachzeichnung der natürlichen Bevölkerungsbewegung während des 18. Jahrhunderts vor. Neben der Leitfrage nach dem Einfluss der Religion geht es um eine Bevölkerungsgeschichte im Zeitalter des Übergangs. Die Rolle der Konfession darf, so Jägers, nicht überbetont werden: Zwar stellt sie bei den Heiratsmonaten (Katholiken heirateten nicht in der stillen Zeit), bei der Empfängnisverhütung (dies war ein Phänomen offensichtlich der Lutheraner; siehe auch Kapitel 6) und bei der Taufe (ledige reformierte Mütter griffen auf das katholische Heilsangebot zurück, um der öffentlichen Kirchenbuße zu entgehen) signifikante Unterschiede der drei Konfessionen fest, die sie auch im Vergleich zu den anderen Referenzstädten problematisiert (vergleiche Tabelle 81 [!], 346), doch entscheidend blieben in vielerlei Hinsicht die "städtischen Rahmenbedingungen" (201). Diese wurden von den wirtschaftlichen Gegebenheiten bestimmt. Die günstige ökonomische Entwicklung auf Grund der zahlreichen Tuchmanufakturen sorgte für (bescheidene) materielle Sicherheit und beeinflusste somit auch Sterben und Geburt (vergleiche etwa die geringen Auswirkungen der Hungerkrise 1770-72). Zwar orientierten sich die Konzeptionen nach wie vor an den Jahreszeiten - verringerte Konzeptionen während der arbeitsreichen Sommermonate -, doch war Duisburgs Bevölkerung generell schon vom vorindustriellen demographischen Krisenrhythmus losgelöst. Andererseits waren die Menschen trotz erster Impfungen am Ende des 18. Jahrhunderts noch weit vom medizinischen Fortschritt entfernt, was Jägers unter anderem an der Säuglings- und Kindersterblichkeit und an den Epidemien aufzeigt. "Egodokumente", welche die Trauer der Eltern um den Tod ihrer Kinder dokumentieren (228), werden den statistischen Auswertungen an die Seite gestellt.

Der Faktor Zuwanderung wird im fünften Kapitel ("Die räumliche Bevölkerungsbewegung", 276-314) vertieft. Auffällig ist für Jägers der enorme Zuzug von Katholiken und Lutheranern in die wirtschaftlich prosperierende Stadt, der unter anderem durch die friderizianische Religionspolitik ermöglicht wurde. Der typische Zuwanderer war ledig, vermutlich jung und ganz im Gegensatz zum Bild der Forschung sowohl männlich als auch weiblich. Die Nahwanderung herrschte vor. Jägers widerlegt im Rahmen ihrer Auswertungen die Überlegung der älteren Forschung, dass bei kleineren Städten der Zuzug ausschließlich vom ländlichen Raum ausging.

Im sechsten Kapitel widmet sich Jägers Momentaufnahmen der Bevölkerung - hier den Bevölkerungszählungen von 1714 und 1811 (315-357) -, um Familiengröße, Heiratsalter und innerehelicher Fruchtbarkeit nachzugehen. Die Kinderzahl schwankte in Duisburg zwischen 2,6 und 2,9. Auch in vergleichender Betrachtung stellt Jägers die "einfachen Familienhaushalte" (Kernfamilie: Vater-Mutter-Kinder) als dominantes Modell fest, wobei sie die Überlegung Mitterauers bestätigt, dass am Beginn der Neuzeit die Mehrgenerationenfamilie anwuchs, was in Duisburg mit der Wohnraumverknappung in Verbindung stand. Bei der Altersstruktur zeigt sich, dass Duisburg um 1800 durch Zuzug und wirtschaftliches Wachstum eine klassische Pyramide, also eine wachsende "junge" Bevölkerung, aufwies. Der Rezensent kann sich allerdings gut vorstellen, dass man dieses sechste Kapitel wegen zum Teil ähnlicher Fragen auch mit dem vierten Kapitel hätte zusammenfügen können.

Insgesamt bleibt die hohe methodische Versiertheit der Autorin bei der Nutzung des sozialstatistischen Zugriffs festzuhalten: In jedem der Kapitel wird der "Laie" gekonnt in Methoden und Begriffe eingeführt, sodass Grafiken und Kreuztabellen lesbar werden. In Zeiten, in denen die sozialstatistische Arbeit gegen Null tendiert und Tabellen zum raren Gut werden, ist die Arbeit von Jägers ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass Sozialstatistik und Historische Demographie ganz Entscheidendes zur Geschichte der Stadt des 18. Jahrhunderts beitragen. Insofern ist die Arbeit auch als zeitloses Plädoyer zu verstehen, sich wieder mehr dem sozialen und wirtschaftlichen Wandel in den Städten zu widmen.


Rezension über:

Regine Jägers: Duisburg im 18. Jahrhundert. Sozialstruktur und Bevölkerungsbewegung einer niederrheinischen Kleinstadt im Ancien Régime (1713-1814) (= Rheinisches Archiv; 143), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, XIII+ 422 S., 4 Kart., ISBN 978-3-412-12300-0, EUR 45,00

Rezension von:
Werner Freitag
Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Empfohlene Zitierweise:
Werner Freitag: Rezension von: Regine Jägers: Duisburg im 18. Jahrhundert. Sozialstruktur und Bevölkerungsbewegung einer niederrheinischen Kleinstadt im Ancien Régime (1713-1814), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/03/2152.html


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