sehepunkte 3 (2003), Nr. 3

Ulrich Mai (Red.): Heimat und Ethnizität

Im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Das Fremde und das Eigene" der Volkswagen-Stiftung haben Wissenschaftler aus Deutschland und Polen versucht, sich dem Phänomen der heutigen Bevölkerung Masurens durch eine Reihe von Feldstudien zu nähern. Im Vordergrund stand dabei die Frage nach der Konstruktion von Heimat durch symbolische Aneignung sowie nach den Dimensionen interethnischer Beziehungen.

Sehr anschaulich beschreiben sieben Autorinnen und Autoren am Beispiel einiger Dörfer im östlichen und nordöstlichen Masuren, wie nach 1945 aus Ukrainern, die durch die "Akcja Wisła" nach Masuren gelangten, einigen polnischen Familien aus den ehemals grenznahen Gebieten um Suwałki und wenigen Personen der alten einheimischen Bevölkerung eine neue Dorfgemeinschaft und Nachbarschaft entstand. So sorgte die existenzielle Not der Nachkriegszeit für die gegenseitige Annäherung der in großer Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal lebenden Gruppen. Die ökonomisch notwendige Tauschwirtschaft half, Kontakte über ethnische Grenzen hinweg zu knüpfen, gemeinsame Feldarbeit verband. Die Solidarität der neuen Dorfbewohner manifestierte sich auch im gemeinsamen Kirchenbau, während zugleich die religiöse Bindung für die Beibehaltung der ethnischen Substanz sorgte.

Die physische Aneignung des Raumes fand schließlich durch die Anwendung von Verhaltensmustern statt, die aus der "alten Heimat" stammten. So schlossen beispielsweise die aus der Ukraine gekommenen Familien die meist mit einem Vorbau versehenen Vordereingänge der Häuser, mauerten sie gar zu und begnügten sich mit der in der Ukraine allein üblichen und intimeren Hoftür. Zugleich gab es aber auch die Bereitschaft, von der alteingesessenen Bevölkerung zu lernen, etwa im Bereich der Vorratshaltung. Dennoch verfestigten sich im kollektiven Gedächtnis der lokalen Gesellschaften auch altbekannte Stereotypen, die sich vor allem auf den baulichen und wirtschaftlichen Zustand der Dörfer vor 1945 und heute beziehen. Häufig genug stehen diese zugleich im Widerspruch zu den individuellen Beziehungen der in den vorliegenden Beiträgen akribisch befragten Personen. Der Assimilierungsprozess, oft erst in der zweiten Generation abgeschlossen, wird heute zwar durch die politischen Veränderungen nach 1989 auf den Prüfstand gestellt, insofern Deutschen und Ukrainern durch die Bildung von Minderheitenorganisationen ein offenes Eintreten für ihre Nationalität möglich ist. Allerdings sehen die Verfasser hierin keine wirkliche Gefahr für den Integrationsprozess der lokalen Gesellschaften, da sich in den untersuchten Gebieten keine Rückkehr zu einer eindeutigen Grenze zwischen den ethnischen Gruppen erkennen lässt. Zugleich lässt sich feststellen, dass die einzelnen Ethnien inzwischen mehr Verhaltensmuster und Gewohnheiten voneinander übernommen haben, als ihnen selbst überhaupt bewusst ist.

Abgerundet wird der Band durch einen Forschungsüberblick von Andrzej Sakson zu der Frage, wer heute noch als Masure bezeichnet werden kann, und einen Beitrag von Zbigniew Kurcz über "Die deutsche Minderheit in Schlesien nach 1945", der einen gelungenen Kontrastpunkt zu den masurischen Untersuchungen bildet und die Unvergleichbarkeit der beiden Regionen sehr deutlich werden lässt.


Rezension über:

Ulrich Mai (Red.): Heimat und Ethnizität. Über den Umgang mit Fremdheit in Masuren und Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg (= Nordost-Archiv; Bd. VIII (1999), H. 1), Lüneburg: Nordost-Institut 2001, 408 S., ISSN 0029-1595, EUR 17,50

Rezension von:
Sabine Grabowski
Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Grabowski: Rezension von: Ulrich Mai (Red.): Heimat und Ethnizität. Über den Umgang mit Fremdheit in Masuren und Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg, Lüneburg: Nordost-Institut 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/03/2403.html


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