Der derzeitige Bundeskanzler ist nicht der erste prominente deutsche Politiker namens Gerhard Schröder. Im Nachkriegsdeutschland der Fünfziger- und Sechzigerjahre agierte schon einmal ein Gerhard Schröder an vorderer bundespolitischer Front, zunächst von 1953 bis 1961 als Bundesinnenminister, dann 1961 bis 1966 als Leiter des Auswärtigen Amtes, schließlich in der Großen Koalition als Bundesverteidigungsminister. Allerdings sind zwischen den beiden Schröders kaum größere Unterschiede denkbar, abgesehen von der gemeinsamen juristischen Ausbildung und vielleicht auch dem vergleichbaren politischen Durchsetzungswillen. Hier der aktuelle SPD-Kanzler, säkular-libertinärer Typus des Aufsteigers aus kleinen Verhältnissen, Toskana-Fraktion der etwas hemdsärmelig-platten Art, ziemlich populistisch, ohne allzu feste ideell-programmatische Bindung, aber ein politisches Verkaufstalent erster Güte. Auf der anderen Seite steht der ältere Schröder: liberal-konservativer CDU-Politiker, gläubiger norddeutscher Protestant, in Gestus und Habitus distinguiert, bildungsbürgerlich und distanziert-britisch, auch einigermaßen arrogant wirkend und von Scheitel bis zur Sohle ein akkurater Preuße, verlässlich, bürokratisch, etatistisch. Mit diesem älteren Gerhard Schröder, dessen Lebensspanne beinahe das ganze 20. Jahrhundert umfasst (1910 bis 1989), beschäftigt sich die vorliegende Biografie. Die Arbeit, eine Jenaer Habilitationsschrift, reiht sich damit ein in die mittlerweile erkleckliche Anzahl zeitgeschichtlicher Biografien zum politischen Personal der entstehenden Bundesrepublik Deutschland.
Die Studie ruht auf einer breiten und soliden Quellen- und Literaturbasis. Im Zentrum steht dabei der umfängliche Nachlass Schröder im Archiv für Christlich-Demokratische Politik (St. Augustin), den der Autor erstmals hat wissenschaftlich benutzen dürfen. Er bildet gewissermaßen das "materielle" Rückgrat der Arbeit, wird aber doch immer mit dem gebotenen quellenkritischen Fingerspitzengefühl und dem Bewusstsein auch für die Grenzen und (zeitlichen wie thematischen) Ungleichgewichtigkeiten derartiger Politikernachlässe ausgewertet.
Die über die rein biografischen Abläufe und Detailfacetten hinausgehende Leitperspektive der Untersuchung scheint in deren Untertitel "Politik zwischen Staat, Partei und Konfession" auf: Es geht um das Spannungsverhältnis eines Politikers, der "zwischen älterem preußisch geprägten (Obrigkeits-)Staatsdenken und der neueren Parteiendemokratie" (16), zwischen traditioneller politischer und konfessioneller Prägung vor 1945 und den gründlich gewandelten Rahmenbedingungen des jungen westdeutschen Staates nach 1945 stand. Das hat mit der speziellen preußisch-national-protestantischen familiären wie politisch-gesellschaftlichen Sozialisation des werdenden Juristen Gerhard Schröder persönlich zu tun, deren eindringliche Analyse am Beginn des Buches steht (23-75), und die nach 1933 zuerst zur Anpassung an die neuen Machthaber, dann aber vor allem wegen der Kontakte zur Bekennenden Kirche und wegen persönlicher Erfahrungen (Treue zur Verlobten, obwohl diese "rassischer Mischling 1. Grades" war) zur deutlichen Distanzierung vom NS-Regime, sogar zum Austritt aus der NSDAP führte (76-131). In Schröders Lebensweg zeigen sich über diese individuellen Elemente hinaus aber auch Bewusstseinsdispositionen, die für eine bestimmte "politische Übergangsgeneration" des "politischen Mitte-Rechts-Spektrums" (16) ganz allgemein als typisch gelten können. Insofern lässt sich hier, wie der Verfasser postuliert, in der Tat mit der Geschichte eines "Individuums, das für eine politische Generation mit einer spezifischen politischen Mentalität steht", ein Stück weit eine "Etappe in der Entwicklung der politischen Kultur im bürgerlichen Spektrum der Bundesrepublik Deutschland beschreiben" (18).
Schröder hat nach 1945, stets gefördert von Konrad Adenauer, eine steile und rasante politische Karriere absolviert: Ein dynamischer shooting star der Union, der sich zunächst - Mitarbeiter Heinrich Dinkelbachs in der deutschen Stahlkontrollbehörde, dann ab 1949 Bundestagsabgeordneter - vor allem als Spezialist für Fragen der Montanindustrie und der Mitbestimmung profilieren konnte (163-251). Danach war er zwei Legislaturperioden bis 1961 als Bundesinnenminister tätig (253-418), ein Amt, das er mit hoher administrativer Kompetenz versah und mit einer gemischten politischen Bilanz abschloss (Erfolge bei der Neustrukturierung des Bundesgrenzschutzes und im KPD-Prozess, dagegen bittere gerichtliche Niederlagen beim Scheitern des Verbots der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes oder beim Fernseh-Urteil). Zum Höhepunkt seiner Laufbahn zwischen 1961 und 1966 als Außenminister agierte er dann mit den bekannten Schwerpunkten auf der Ostpolitik und auf der Auseinandersetzung zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten" um die Stellung Deutschlands in Europa einerseits und im Rahmen der Partnerschaft zu den USA und zu Großbritannien andererseits (419-684). Insgesamt präsentierte sich Schröder dabei von Beginn an weit mehr als Fachmann für komplexe Materien denn als Parteisoldat mit großer Hausmacht. Auch wenn er innerhalb der Union als langjähriger Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises (379-401) ein bedeutendes integratives Element der interkonfessionellen Öffnung der Partei darstellte, ließen ihn doch seine distanzierte Art und die "etwas schulmeisterlichen Formen" (248), aber auch sein "stark exekutivistisch geprägtes" (413) Politikverständnis niemals zu einem populären Politstar wie etwa Ludwig Erhard werden.
Das Buch ist flüssig geschrieben und recht gut lesbar. Die einzelnen Lebensstationen werden genau und äußerst detailreich erfasst, dicht belegt und zu einem schlüssigen Gesamtpanorama verwoben. Man mag fragen, ob es dazu tatsächlich einer Fülle von fast 800 Seiten bedurft hätte. Manche Straffung und Konzentration der Argumentation, das entschiedene Kürzen bei Themen (etwa der Außen- und Europapolitik), zu denen vieles schon gesagt ist und zu denen überdies mit der 2001 erschienenen Studie Franz Eibls ("Politik der Bewegung. Gerhard Schröder als Außenminister 1961-1966") bereits eine teilbiografische Untersuchung vorliegt, hätten da nicht geschadet. Dennoch kann das Buch Oppellands Maßstäbe setzen: Durch die erstmalige Erschließung des Schröder-Nachlasses (der Eibl nicht zur Verfügung stand) werden neue Interpretationsfundamente geschaffen, die vor allem den Blick auf die persönliche Biografie nicht unerheblich erweitern und durchaus auch zu einigen Neubewertungen in Details der Außenpolitik Schröders führen (zum Beispiel hinsichtlich des starken Einflusses von Brzezinskis Konzeption auf Schröders Ostpolitik, 476ff.). Außerdem wird die persönliche und politische Entwicklung Schröders stets mit den größeren Zeitumständen verknüpft, wird der Lebens- und Karriereweg immer auch in seinen exemplarischen Dimensionen erfasst. Schließlich erscheint ein darstellerisches Element sehr gelungen und hilfreich: die essayhaften, thematischen und in souveränen Strichen gezeichneten Zusammenfassungen der einzelnen, an sich chronologisch verfahrenden Kapitel (zum Beispiel das grundlegende Fazit "Anglo-borussische Sozialisation eines Nationalliberalen" zu Schröders Prägung in der Weimarer Republik oder das typisierende Resümee "Beamter oder Politiker?" zu Schröders Neustart nach dem Krieg, 68-75, 159-162). Sie erleichtern nicht nur dem Leser den Weg durch die Untersuchung, sondern bündeln und akzentuieren auch in trefflicher problemorientierter Weise zentrale Fragekomplexe der Biografie.
Torsten Oppelland: Gerhard Schröder (1910-1989). Politik zwischen Staat, Partei und Konfession (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 39), Düsseldorf: Droste 2002, 797 S., 17 Abb., ISBN 978-3-7700-1887-1, EUR 48,00
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