Raul Hilberg analysiert kenntnisreich die mittlerweile fast unüberschaubare Vielfalt der Quellen zur Geschichte der Ermordung der europäischen Juden. Dabei ist die Studie des inzwischen 76-jährigen Nestors der Holocaustforschung kein Handbuch und will auch keines sein. Hilberg, der auf die Erfahrungen eines mehr als fünfzigjährigen Forscherlebens zurückgreifen kann, bietet dem Leser einen essayistisch verfassten Leitfaden für den Umgang mit dem Rohmaterial historischer Forschung. Die Fundamente des kritischen Umgangs mit historischen Quellen sind der Ausgangspunkt seiner Überlegungen: Erst eine spezifische Fragestellung kann die Dokumente zum Sprechen bringen. Keine Quelle ist lediglich "Rohstoff" für die Rekonstruktion von Ereignissen, sondern erzählt ihre eigene Geschichte und hat ihren besonderen Entstehungskontext, der für die Interpretation von entscheidender Bedeutung ist.
Hilberg hat seine Studie in drei große Abschnitte gegliedert. Zunächst typologisiert er die Quellen nach ihrer äußeren Form. Dem folgt eine Betrachtung ihres inneren Aufbaus. Im Vordergrund stehen hier die Struktur, der charakteristische Stil und der spezifische Inhalt der jeweiligen Dokumente. Schließlich widmet sich ein abschließendes Kapitel der Frage nach der Nutzbarkeit der Quellen. Hier werden sowohl generelle Aspekte der Quelleninterpretation zur Sprache gebracht als auch die Frage erörtert, wo einschlägige Bestände zur Verfügung stehen und wie sie genutzt werden können.
Die Bandbreite des Quellenmaterials, das Hilberg in seine Betrachtungen einbezieht, ist enorm. Von der rostigen Waffe eines Widerstandskämpfers über von Archäologen freigelegte Überreste von Lagern bis hin zu klassischem Dokumentenmaterial, alles kann - je nach Fragestellung des Historikers - Auskunft über spezifische Aspekte des Vernichtungsprozesses geben. Bereits zu Beginn des Buches wird aber deutlich, welches Material für Hilberg die "Quellen des Holocaust" darstellt. Nicht Bilder oder audiovisuelle Überlieferungen stehen im Mittelpunkt seiner Analyse. Auch die Schwächen der Methode der Oral-History führt Hilberg dem Leser deutlich vor Augen. Vergleichsweise kurz werden Quellen erörtert, die nach 1945 im Rahmen von Strafprozessen oder der Restitution und Entschädigung entstanden sind und oftmals als einzige Überlieferung Auskunft über bestimmte Verfolgungsprozesse wie etwa die "Arisierung" jüdischen Eigentums geben können. Sein Hauptaugenmerk gilt vielmehr dem zeitgenössischen Verwaltungsschriftgut, das Hilberg auf differenzierte Weise und unterlegt mit eindrucksvollen Beispielen aus zahlreichen internationalen Archiven vorstellt. Hilberg gelingt es dabei, nicht nur die Vielfalt amtlichen Schriftguts und die jeweiligen Unterschiede im Umfang der enthaltenen Informationen aufzuzeigen. Die ausufernden diskriminierenden Reglementierungen und die Komplexität der Bestimmungen, die etwa den Umlauf des Schriftverkehrs innerhalb der Verwaltung bestimmten, verdeutlichen gleichzeitig allgemeine Merkmale des NS-Systems, indem sie dem Leser den stark bürokratisierten, arbeitsteiligen Prozess der Vernichtung deutlich vor Augen führen.
Der Typologie der Quellen folgt im zweiten Kapitel eine Darstellung ihrer "Komposition". Hilberg beschreibt hier den spezifischen Entstehungskontext, die "verinnerlichte Ordnung" und die streng hierarchische Struktur der NS-Bürokratie, welche die Informationen in den schriftlichen Quellen strukturierten und die sowohl ihre äußere Form als auch ihren Inhalt entscheidend prägten. Hilberg führt den Leser durch das Labyrinth der deutschen Verwaltung, durch die verschiedenen hierarchischen Ebenen, durch das Wirrwarr von Abkürzungen und durch die zahlreichen Gepflogenheiten und Vorschriften, denen ein Schriftstück im amtlichen Geschäftsgang unterworfen war.
Ein besonderes Augenmerk Hilbergs gilt der Binnenstruktur seiner Quellen. Anhand charakteristischer Ausdrucksformen oder der Wortwahl eines Textes veranschaulicht er spezifische Sprachmerkmale der NS-Zeit und macht besonders auf die nüchterne, oft verschleiernde Ausdrucksweise aufmerksam. Fahrpläne der Reichsbahn etwa sprachen auch von "Reisenden", wenn es sich um Deportierte auf dem Weg in das "Altersghetto" Theresienstadt handelte. Euphemismen wie "Sonderbehandlung" oder "Sonderkeller" umschrieben brutale Stationen im Prozess der Vernichtung. Neben spezifischen Begriffen auf der Täterseite gelingt es Hilberg aber auch, den Blick auf verfolgungsbezogene Sprachcodes der Betroffenen auszuweiten, die etwa durch das spezielle Begriffssystem unter den Häftlingen der Konzentrationslager deutlich gemacht werden.
Dem konkreten Inhalt der Quellen nähert sich Hilberg in vier weiteren Schritten. Neben den "Prämissen", die dem Schriftverkehr zugrunde lagen und diesen begrenzten, werden sowohl verschiedene "Arten der Information" als auch "Auslassungen" und "Unwahrheiten" in den Dokumenten thematisiert. Auch bei der Analyse der in den Quellen vorhandenen Informationen legt Hilberg den Schwerpunkt auf die bürokratischen Mechanismen des Verfolgungsprozesses. Sein Interesse gilt der Informationsdichte sowie den Zielen und Zwecken des amtlichen Schriftverkehrs. Die Inhalte von Gesetzen und Verordnungen, die Informationen im Berichtswesen und in den amtlichen Briefwechseln, die Bedeutung von Fakten, die in den Quellen - bewusst oder unbewusst - nicht zur Sprache gebracht werden, oder häufig anzutreffende Irreführungen oder Falschaussagen werden anhand von anschaulichen Beispielen aufgezeigt und in größere Zusammenhänge eingeordnet. Im letzten Kapitel ("Nutzbarkeit") erörtert Hilberg Verknüpfungsmöglichkeiten verschiedener Quellen sowie die Überlieferungssituation einschlägiger Bestände.
Die große Bandbreite des vorgestellten Materials, die kluge Strukturierung des Stoffes sowie die differenzierte Analyse Hilbergs, die immer wieder neue, auf den ersten Blick verborgene Informationsschichten der analysierten Texte freilegt, machen die Studie zu einem überaus hilfreichen Ratgeber für das schwierige Interpretationshandwerk von Quellen aus dem nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungsapparat. Eine klare Diktion, viele anschauliche Beispiele und Ausführungen zu grundsätzlichen Fragen des kritischen Umgangs mit historischen Quellen empfehlen Hilbergs Buch als grundlegendes Hilfsmittel der Holocaust-Forschung, von dem nicht nur Studierende, sondern auch erfahrene Forscher profitieren können.
Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Aus dem amerikanischen von Udo Rennert, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002, 256 S., ISBN 978-3-10-033626-2, EUR 22,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.