Der vorliegende Sammelband ist das Resultat einer Tagung des Historischen Kollegs von 1998. Die intensive Forschungsdebatte der vergangenen Jahre über Struktur und Funktion, Kontinuität und Innovationen des Rechts im demokratischen Athen, zu der die Monografien von David Cohen Entscheidendes beigetragen haben, macht die Brisanz des Themas deutlich. [1] Ähnliches gilt für die Kategorie der sozialen Kontrolle. Eine Besonderheit der athenischen Demokratie ist das Ausmaß, in dem die Einhaltung sozialer Normen auch institutionell bewertet wurde. [2] Dabei unterlagen nicht nur die Amtsträger der kritischen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, sondern auch in Privatprozessen spielte die Bewährung des Angeklagten als athenischer Bürger (etwa das Verhältnis zu seinen Eltern) eine nicht unwesentliche Rolle für die Urteilsfindung. Gerade weil hier, wie Cohen in seiner Einleitung zutreffend hervorhebt, juristische und nichtjuristische Formen sozialer Kontrolle aufs Engste miteinander verbunden sind, ist die Frage nach dem generellen gesellschaftlichen Stellenwert derartiger Kontrollmechanismen bedeutsam. Ebenso plausibel erscheint der Ansatz, die althistorische Perspektive durch interkulturelle Vergleiche sowie durch die Erkenntnisse von Anthropologen und Rechtswissenschaftlern zu erweitern.
Genau hier liegt jedoch das entscheidende Problem des Bandes. Cohen vermochte es nicht, das Tagungsthema durch die Skizzierung von Leitfragen oder Arbeitsdefinitionen konzeptionell zuzuspitzen und so die vielfältigen Ansätze wirklich interdisziplinär zusammenzuführen. Entsprechende Irritationen werden durch einige Teilnehmer explizit erwähnt. [3] Diesem Defizit entspricht auch, dass die überaus knapp gehaltene Einführung (nur etwas mehr als zwei Seiten) weder eine hinreichende Orientierung über zentrale Fragen der bisherigen Forschungsdiskussion bietet noch erkennen lässt, welcher Binnenstruktur die Gliederung der Beiträge folgt.
Dem Mangel an Kohärenz steht jedoch die hohe Qualität der einzelnen Aufsätze gegenüber, deren Reihe durch Jon Elster eröffnet wird. Elster warnt vor trügerischen Gewissheiten bei der Verwendung der Kategorie der sozialen Kontrolle, etwa der Annahme, die Kontrolle erfolge durch den überwiegenden Teil der Gesellschaft beziehungsweise bewirke immer die Eingrenzung sozial schädlichen Verhaltens. Tatsächlich jedoch, so Elster zu Recht, werde durch soziale Kontrolle negatives Verhalten in manchen Fällen erst hervorgerufen, und auch die Interessen der kontrollierenden Akteure seien im konkreten Fall sorgfältig zu prüfen. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dann der Frage, welche Bedeutung Affekte für die Wirksamkeit von sozialen Normen besitzen. Bedauerlich ist nur, dass Elster die Gesetze in seinen Überlegungen über soziale Normen explizit ausnimmt. Doch auch seine Bewertung der Rache als sozial unnütz ist nicht unproblematisch, da er so deren Bedeutung bei der gesellschaftlichen Statuswahrung unterschätzt.
Kontrollmechanismen im militärischen Bereich analysiert William Ian Miller anhand der 1950 als Teil des amerikanischen Militärrechts kodifizierten Regelungen des "Uniform Code" bezüglich der Sanktionierung von Feigheit vor dem Feind. Ungeachtet der zeitlichen Distanz erbringt seine Untersuchung höchst interessante Ergebnisse. So macht der Umstand, dass das Statut in seinen Festlegungen auf teilweise jahrhundertealte Vorbilder zurückgriff, ein hohes Maß an Normenkontinuität erkennbar. Und selbst für die scheinbare Redundanz der zahlreichen Einzelverfügungen vermag Miller nachzuweisen, dass sie keineswegs die Autorität des Statuts untergrub, sondern die Verfügungen vielmehr einer höchst subtilen Regelungsökonomik dienten. Diese fassten unterschiedliche Spielarten soldatischer Pflichtverletzung kategorial und beantworteten sie mit einem fassettenreichen Bestrafungssystem.
In welchem Maße Kontrollmöglichkeiten und -strategien von den politischen Strukturen eines Gemeinwesens abhängen, verdeutlichen am Beispiel der Rechtsfindung Henk S. Versnel, Christopher A. Faraone sowie der an einer späteren Stelle des Bandes platzierte Beitrag von Gerhard Thür. Obgleich sich alle mit der Quellengruppe der griechischen Fluchtafeln befassen, also die religiöse Dimension der Rechtsfindung untersuchen, ergeben sich erhebliche Unterschiede. Die von Versnel und Thür vorgestellten Tafeln stammen fast ausnahmslos nicht aus dem klassischen Athen. Es sind Tafeln, in denen Götter um Gerechtigkeit und Beistand angefleht werden. Ihren Verfassern war Unbill widerfahren, doch konnten oder wollten sie sich nicht an staatliche Autoritäten wenden, sondern erflehten in einem außerjuristischen Akt die göttliche Bestrafung des Schuldigen. Im Erfolgsfall bekannte dieser dann, nachdem er von dem Gebet und den drohenden göttlichen Sanktionen in Kenntnis gesetzt worden war, seine Schuld und leistete Buße.
Im Gegensatz dazu fungierten die in den Gerichtsverfahren des demokratischen Athen verwendeten Fluchtäfelchen eher als erweiterte Instrumente der Selbsthilfe. Hierzu wurde der Name des Opfers auf ein Bleitäfelchen geschrieben, dieses zusammengefaltet, mit einem Nagel durchstochen und in einem Grab oder einem Brunnen deponiert. Ihr Sinn bestand in der Paralysierung des Gegners, weshalb sie als ergänzendes, wirkungssteigerndes Mittel zu den Prozessreden zu sehen sind. Eine derartige Vorgehensweise zeigt sowohl den agonalen Charakter der Prozesse als auch die Tatsache, dass man für seinen Kampf traditionell bewährte Methoden durchaus nicht verschmähte. Allerdings macht Faraone deutlich, dass die ansonsten durchaus akzeptierte Verfluchung mit harten Sanktionsdrohungen versehen war, sobald das Leben eines athenischen Bürgers gefährdet wurde. Es sind Beispielfelder wie diese, welche den Stellenwert erkennen lassen, den die athenischen Gerichte für die Integration aller Bürger besaßen: Hier ist es nicht in erster Linie eine Gottheit, welche die Garantiemacht der Rechtsgewährung bildet, sondern die Götter werden gleichsam instrumentalisiert, um Erfolg vor einem bürgerlichen Gericht zu erlangen.
Mit den Begräbnisregularien im klassischen Athen befasst sich der Beitrag von Cynthia Patterson. Sie zeichnet die Wandlungen des Begräbnisrituals nach, von den Familienbegräbnissen der homerischen Zeit bis zur Dreiteilung der demokratischen Ära. Diese Untergliederung hatte den Sinn, die Relevanz des Verstorbenen für die Polis zu berücksichtigen, indem man dem unbedeutenden Privatmann ein strikt normiertes Familienbegräbnis konzedierte, den Verräter sogar außerhalb des Stadtgebietes zu beerdigen befahl, die im Kampf gefallenen Helden jedoch durch ein feierliches Staatsbegräbnis ehrte. Patterson weist allerdings nach, dass diese strikte normative Dreiteilung in der Praxis flexibler gehandhabt wurde. Ebenso wenig wie das Staatsbegräbnis die Familie völlig ignorierte, blieb die soziale Ächtung von Staatsfeinden undiskutiert. Schilderungen der Tragödie zeigen, dass hier durchaus die Forderung nach einem Grundrecht auf Begräbnis artikuliert wurde, traditionelle Normen also auch innerhalb der neuen politischen Ordnung nicht verschwanden.
Welchen Stellenwert aber besitzt das verschriftlichte Recht innerhalb der normativen Grundstruktur Athens? Dieser Frage geht Karl-Joachim Hölkeskamp anhand einer Geschichte der Begriffe 'thesmos' und 'nomos' nach. Er gelangt zu dem interessanten Befund, dass politisch-gesellschaftliche Veränderungen keineswegs tiefgreifende Inhaltsveränderungen dieser Begriffe mit sich brachten. Beide standen vielmehr nach wie vor umfassend für Ordnung und Recht, das gesetzte Recht spielte in der Vielfalt von Bedeutungsnuancen eher eine untergeordnete Rolle. Die Ursache hierfür war, wie Hölkeskamp ermittelt, ein grundlegender gesellschaftlicher Zusammenhang: Das verschriftlichte Recht besaß eher Bedeutung als fallweise Lösung von Problemen, die mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu bewältigen waren. Es stand jedoch immer einem breiten Vorrat an nomologischem Grundwissen gegenüber, der sich aus uralten gesellschaftlichen Wertvorstellungen speiste. Diese Erkenntnis ist umso fundamentaler, als sie die sozialen und normativen Wurzeln für die Kontinuitäten innerhalb der athenischen Rechtspraxis verständlich werden lässt, die trotz zahlreicher demokratischer Innovationen unverkennbar sind.
Hölkeskamp macht aber auch deutlich, welche Ursachen und sozialen Bedingungen in der Folgezeit doch zu einem verstärkten Eigengewicht der Gesetzgebung führten. Eine erste Bedingung hierfür ist unzweifelhaft die Schriftlichkeit, die zum Symbol für die Dauerhaftigkeit und unabänderliche Geltung der Gesetze wurde, wobei das Gewicht dieser Beschlüsse durch deren Aufstellung an politisch signifikanten städtischen Plätzen noch vertieft wurde, die Gesetze also auch einen didaktischen Gehalt gewannen. Letztendlich war es jedoch vor allem das gewachsene politische Bewusstsein der Bürgerschaft, Herren der Gesetze zu sein, welches schließlich zu einer Selbstbindung der Politen durch diese Gesetze führte.
Das Gegenmodell hierzu analysiert Alberto Maffi in Platons 'Nomoi'. Hier ist das oberste Ziel die soziale Ordnung, welche durch ein elaboriertes Gesetzgebungswerk und engmaschige Sozialkontrollen stabilisiert werden soll. Der Bürger, im klassischen Athen noch Herr der Gesetze, ist diesen Gesetzen machtlos unterworfen.
Jochen Martin und Lin Foxhall sorgen durch den Blick auf die römische Kultur für eine wertvolle Perspektivenerweiterung. Martin skizziert die gesellschaftlichen und politischen Felder, innerhalb derer soziale Kontrolle in der römischen Republik ausgeübt wurde, wie die 'familia', die cognatische Verwandtschaft, die Klientel oder die innernobilitäre Gruppenkontrolle. Er benennt die intensive Einbindung in verschiedene Beziehungskreise und feste Rollenerwartungen als entscheidende Voraussetzung dafür, dass die hierarchische Ordnung und die Normenkontinuität der römischen Republik so erstaunlich lang bewahrt blieben.
Plutarchs Handlungsanweisungen für Politiker führen im Aufsatz von Lin Foxhall in eine Epoche, in der sich eine selbst- und traditionsbewusste griechische Elite den Anpassungsforderungen der römischen Herrschaftsmacht ausgesetzt sah. Konsequenterweise zeugen Plutarchs Überlegungen von dem Bemühen, traditionelle griechische Werte anhand der neuen politischen Gegebenheiten zu modifizieren und so die Handlungsfähigkeit lokaler politischer Entscheidungsträger durch eine erfolgreiche Kooperation zu gewährleisten.
Die abschließenden Reflexionen von John Komaroff knüpfen an die einleitenden Überlegungen Elsters zum kategorialen Problem der sozialen Kontrolle an. Komaroff plädiert dafür, Kontrollpraktiken verstärkt als politische Aktionen interessegeleiteter Akteure zu fassen und eben nicht nur als unpersönliche normative Mechanismen, die deviantes Verhalten verhindern. Erkenntnisfortschritte sind deshalb nur möglich, wenn beide Ebenen, also Regeln und Praktiken, Konventionen und Interessen, soziale Normen und politische Prozesse, in ihren Wechselwirkungen untersucht und als dynamische Größen wahrgenommen werden. Vor allem interkulturelle Vergleiche, so Komaroff zu Recht, können dazu beitragen, das griechische Recht seiner vermeintlichen Vertrautheit zu entkleiden und so eine präzisere Analyse möglich zu machen.
Insgesamt ist ein sehr anregender Band entstanden, wenngleich zu bedauern ist, dass der Herausgeber den Leser bei der Vernetzung der verschiedenen Ansätze weitgehend allein lässt. Die Fülle an anregenden Untersuchungen, theoretischen Modellen und komparativen Perspektiven, welche die Beiträge bieten, werden die weiteren Diskussionen zum griechischen Recht aber vielfach befruchten.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche D. Cohen: Law, Sexuality and Society. The Enforcement of Morals in Classical Athens, Cambridge 1991; ders.: Law, Violence and Community in Classical Athens, Cambridge 1995; sowie jetzt D. S. Allen: The World of Prometheus. The Politics of Punishing in Democratic Athens, Princeton 1999. Exemplarisch für diese Diskussion ist gerade auch die Kontroverse zwischen David Cohen und Gabriel Herman.
[2] Hierzu ausführlich V. J. Hunter: Policing Athens. Social Control in the Attic Lawsuits, 420-320 B.C., Princeton 1994.
[3] So beschreibt etwa Henrik Versnel in diesem Band (37-39) seine lange Suche nach einem angemessenen theoretischen Konzept für den nur scheinbar unmissverständlichen Alltagsbegriff der sozialen Kontrolle, zu dem ihn die Symposiumseinladung erreichte. John Komaroff kommentiert die Tagung ebenda (191) als "exercise in diversity: conceptual diversity, theoretical diversity, topical diversity. All of which makes it impossible to conjure out of it any kind of synthetic whole, that is equal to, or more than, the sum of its parts".
David Cohen (Hg.): Demokratie, Recht und soziale Kontrolle im klassischen Athen (= Schriften des Historischen Kollegs; Bd. 49), München: Oldenbourg 2002, VI + 206 S., ISBN 978-3-486-56662-8, EUR 44,80
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