Die Gesellschaftsgeschichte der "Bonner Republik" gewinnt allmählich Konturen. Zunehmend richtet die Forschung ihren Blick auf die Sechziger- und frühen Siebzigerjahre, für die empirisch gesicherte Befunde bislang eher dünn gesät waren. [1] Auch der von Ulrich Herbert herausgegebene Sammelband setzt seinen Schwerpunkt in dieser Zeit beschleunigten Wandels.
Anders als bei der Münchener Forschergruppe um Thomas Schlemmer und Hans Woller stehen weniger ökonomisch-technische Modernisierungsprozesse und soziale Umbrüche im Mittelpunkt [2], sondern der "geradezu atemverschlagend[e]" (Herbert, 7) Wandel in den politischen Orientierungen und den Normen der Lebensführung. Wie kam es, dass sich die tief durch das NS-Regime geprägte und durch den Krieg und seine Folgen traumatisierte westdeutsche Nachkriegsgesellschaft in weniger als einem Vierteljahrhundert in eine demokratisch orientierte und liberale Gesellschaft verwandelte? Warum veränderte die bundesdeutsche Bevölkerung ihr Wertegefüge gerade zwischen den späten Fünfziger- und frühen Siebzigerjahren besonders stark? Welche Gruppen trugen diesen Wandel? Welche Faktoren beschleunigten oder verlangsamten ihn? Diese Fragen verbinden die zu vier Schwerpunkten gruppierten Beiträge, in denen vornehmlich jüngere Zeithistoriker Ergebnisse ihrer Arbeiten vorstellen.
Die ersten zwei Kapitel beschäftigen sich mit dem Fortwirken der NS-Zeit in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Jan Friedmann und Jörg Später, Nicolas Berg und Jan Eckel untersuchen im Abschnitt "Abwehr und Legitimation" die intellektuelle Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch Publizisten und Historiker.
Im kollektivbiografischen Abschnitt "Kontinuität und Integration" vermessen Patrick Wagner und Bernhard Brunner das personelle Legat der NS-Diktatur. Beide akzentuieren die großen beruflichen Wiedereingliederungschancen auch schwerstbelasteter ehemaliger Angehöriger der braunen Sicherheitselite. Mit ihrer beruflichen "Resozialisierung" (Wagner, 180) in der jungen Bundesrepublik war keineswegs eine professionelle Neuorientierung verbunden, sondern oftmals das zähe Festhalten an diktaturerprobten Praktiken, wie der Idee eines durch die Polizei präventiv zu bekämpfenden Berufsverbrechertums.
Zwei zentrale Konfliktfelder der politischen Kultur stehen im Zentrum des Abschnitts "Politische Umorientierungsprozesse". Moritz Scheibe rekonstruiert das Ausgreifen der ursprünglich eng auf die staatlichen Institutionen bezogenen Demokratisierungsdiskussion auf Wirtschaft und Gesellschaft. Christiane von Hodenberg setzt ein kräftiges Fragezeichen hinter die verbreitete Vorstellung einer "Stunde Null" des deutschen Journalismus, indem sie zeigt, dass der "Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit" am Beginn der Sechzigerjahre kaum auf einem von den Westalliierten bewirkten Elitenwechsel beruhte, sondern vor allem darauf, dass NS-belastete Journalisten, die das konservative Meinungsklima der Fünfzigerjahre geprägt hatten, im Verlauf der Sechzigerjahre zunehmend durch Angehörige der so genannten "45er" Generation abgelöst wurden. Viele dieser um 1930 Geborenen, deren Jugend im Zeichen von Nationalsozialismus und Krieg gestanden hatte, die aber nach der Zerschlagung der Diktatur noch jung genug zur Umorientierung waren, engagierten sich in den Reformbewegungen der späten Fünfzigerjahre und rückten in den Sechzigerjahren in Führungsfunktionen nach. Als "vermutlich [...] prägendste und einflußreichste Alterskohorte des 20. Jahrhunderts" (Herbert, 44) sind sie die heimlichen Helden dieses Sammelbands. Im Vergleich dazu wirken die "68er" eher wie Epigonen, die bestehende Kritikmuster lediglich aufgriffen und radikalisierten.
Sechs Aufsätze des mit rund 150 Seiten umfangreichsten Abschnitts "Abweichung, Norm, Einstellungswandel" sind dem tief greifenden Wertewandel seit den Fünfzigerjahren gewidmet, in dem vielfach noch aus dem wilhelminischen Deutschland stammende Orientierungen ihre Geltung verloren. Als Gradmesser des Wandels analysieren die Autoren in erster Linie Expertendiskurse und gewandelte Rechtsverhältnisse.
Sybille Buske rekonstruiert den Abbau der juristischen Diskriminierung unehelich Geborener als Ergebnis wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz der massenkulturellen Moderne und der mit ihr verbundenen Pluralisierung von Lebensstilen. Dies schwächte die kirchliche Deutungshoheit in Familienfragen und ließ angesichts veränderter Lebenswirklichkeiten die sozialen Kosten eines durch den Staat normierten Familienmodells zunehmend fragwürdig erscheinen. Die Verfasserin betont mit Recht, dass die Anerkennung der Moderne kein linearer Weg "vom Dunkel ins Licht" (Buske, 345) gewesen sei, sondern Ergebnis eines jahrzehntelangen, konfliktreichen, immer wieder blockierten Prozesses, der schwere Verwerfungen hervorrief. In dieser Perspektive erscheinen die Sechzigerjahre als "Phase des Übergangs und des Kampfes um kulturelle und politische Hegemonie [...] die erst nach langen Auseinandersetzungen zu neuen und konsensfähigen Grundlagen führten." (Herbert, 31).
In eine ähnliche Richtung wie Buske argumentiert Michael Kandora, der die Entkriminalisierung der Homosexualität als Prozess funktionaler Differenzierung und Spezifizierung von Strafrechtsnormen beschreibt, die ihren Charakter als Instrumente zur Verteidigung eines "unwandelbaren ewigen Sittengesetzes [...] gegen die zersetzenden Tendenzen der Moderne" (Kandora, 387) zunehmend verloren und auf ihre Schutzfunktion für Minderjährige beschränkt wurden.
Die Beiträge von Julia Ubbelohde, Imanuel Baumann und Torsten Gass-Bolm behandeln unterschiedliche Reaktionsformen auf jugendliche Normverstöße. Sie verdeutlichen, dass die Liberalisierungsprozesse keineswegs gleichförmig abliefen. Konstatiert eine Studie über das "Ende der Schulzucht" seit Anfang der Sechzigerjahre eine stillschweigende "Abkehr von der 'Pädagogik des Durchgreifens'" (Gass-Bolm, 449), zeigt Imanuel Baumanns Untersuchung über das Fortleben biologistischer Denkfiguren bei der "Interpretation und Sanktionierung von Jugendkriminalität" wie zäh juristische Experten bis in die Sechzigerjahre an Konzepten wie "Psychopathie", "Willensschwäche" und "Vererbbarkeit" festhielten, die bereits in den Zwanzigerjahren etabliert und durch den Nationalsozialismus radikalisiert worden waren.
Obgleich bescheiden als Zwischenbilanz angekündigt, ist der Forschungsertrag dieses klug komponierten Sammelbandes beträchtlich. Die Beiträge verbindet eine geschickte Auswahl der Untersuchungsfelder und eine zeitlich weitgespannte Perspektive. Auch wenn der Fokus auf der Kernzeit des Wandels in den langen Sechzigerjahren liegt, setzt der Großteil der Studien nicht erst in den Reformjahren der Bundesrepublik ein, sondern bereits in der Zeit der Jahrhundertwende. Ihr messen die Autoren zentrale Bedeutung für diejenigen kulturellen und mentalen Dispositionen bei, die die ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Die Zeit zwischen 1900 und den Siebzigerjahren lässt sich in dieser Sichtweise als einheitliche Epoche deuten, deren Signatur durch die anfangs konfliktbehaftete, im Zeichen wirtschaftlicher Wohlstandserfahrung und politischer Stabilisierung seit dem Ende der Fünfzigerjahre jedoch zunehmend konsensfähige Durchsetzung der Hochmoderne bestimmt wurde. Eine solche Längsschnittperspektive vermeidet die "vielfach anzutreffende Abschottung" (Herbert, 10) der bundesdeutschen Geschichte "gegenüber ihrer Vorgeschichte vor 1945" und trägt dazu bei, die Entwicklung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft in langfristige Kontinuitätslinien einzuordnen. Allerdings begünstigt sie eine Sichtweise, die die Geschichte der Bundesrepublik primär als Abarbeitung alter Problemlagen begreift und die für die Geschichte moderner Gesellschaften grundlegende Frage nach der Genese neuer Probleme weitgehend ausblendet. Dass sich beide Sichtweisen fruchtbar integrieren lassen, zeigt der differenziert argumentierende Schlussbeitrag von Cornelia Brink über die Praxis der psychiatrischen Zwangseinweisungen. Sie bewertet die Freiheitsgewinne psychisch Kranker trotz verbesserter Rechtstellung und medizinischer Versorgung zurückhaltend und macht deutlich, dass Modernisierungsprozesse zum Beispiel dort, wo der therapeutische Reformoptimismus zur Verdrängung der chronisch Kranken aus den Zentren der medizinischen Versorgung führte, mit erheblichen Kosten für einen Teil der Betroffenen verbunden waren.
Anmerkungen:
[1] Axel Schild / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2003.
[2] Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hg.): Die Erschließung des Landes 1949-1973, München 2001; dies. (Hg.): Gesellschaft im Wandel 1949-1973, München 2002.
Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2002, 592 S., ISBN 978-3-89244-609-5, EUR 40,00
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