In ihrer Untersuchung des Bildertheaters um 1900 hat Uta Grund es sich zum Ziel gesetzt, die Verwischung tradierter Gattungsgrenzen zwischen den Künsten im Laufe des 20. Jahrhunderts auf einen ersten Kulminationspunkt zurückzuverfolgen. Die Autorin legte ihre Untersuchung im Sommer 1999 als Dissertation am Kunsthistorischen Seminar der Humboldt-Universität Berlin vor, und kündigt im Vorwort zur gedruckten Fassung einen "[...] interdisziplinären Beitrag zur Kunst- und Theatergeschichte um 1900 [...]" an, der sich "[...] in das zuweilen konfliktgeladene Spannungsfeld zwischen den Wissenschaften"(13) begibt.
Eine kunsthistorische Perspektive auf die Entwicklung des Bildertheaters im 20. Jahrhundert ist keineswegs neu oder überraschend und wurde zum Beispiel in den 90er-Jahren von Peter Simhandl in seinem Überblickswerk zum Beitrag bildender Künstler auf das optisch dominierte Theater von 1900 bis Peter Wilson gewählt. [1] In ähnlicher Weise ist Edward Gordon Craigs Bedeutung als Bühnenreformator unumstritten und in der Literatur zu seinem Werk wohl belegt. [2]
Indem sie diese beiden Ansätze zum Anlass einer dezidierten Betrachtung der katalytischen Bedeutung des "englischen Malers" Edward Gordon Craig sowohl für das Bildtheater als auch für bestimmte Kunstströmungen nimmt, gelingt es Uta Grund, die Wechselwirkungen von Theaterreform und bildender Kunst zwischen 1870 und 1920 aufzuzeigen. Sie bedient sich zu diesem Zweck einer Fülle unpublizierter Quellen und zeitgenössischer Rezensionen, die vorrangig aus dem Bereich der Theatergeschichte stammen, mit Peter Behrens, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Bruno Taut, Oskar Schlemmer und anderen aber auch bildende Künstler und Architekten berücksichtigen, die maßgeblich mit der Entwicklung des Bildertheaters in Zusammenhang stehen.
Im ersten Hauptteil beleuchtet die Autorin die sich verändernde Funktion und Bedeutung der Opsis, die die Gesamtheit der sichtbaren Aufführung beschreibt, vom Meininger Hoftheater der 1870er-Jahre, über das Münchner Künstlertheater des Georg Fuchs, Max Reinhardts Illusionstheater bis zu Craigs ersten Bühnenbildern und Kostümentwürfen an deutschen Bühnen um 1900. Die Begriffe der Visualisierung und Intimisierung zeichnen in diesem Zusammenhang die Wiederentdeckung der bildenden Kunst für Theaterinszenierungen nach, und die Autorin untersucht diese sowohl in Bezug auf ästhetische Ideen als auch mit Blick auf deren praktische Umsetzung. Es ist im Kontext der interdisziplinären Fragestellung des Buches von besonderem Interesse, dass Uta Grund ihr Augenmerk auch auf Craigs Rezeption in Kunstgewerbekreisen lenkt und die zeitgenössische Kritik nachvollzieht.
An diese Anfänge anknüpfend, konzentriert sich der zweite Hauptteil auf die Verabsolutierung der Opsis bei Craig und den Einfluss bildender Kunst auf moderne Auffassungen von Regie, personifiziert, und maßgeblich getrieben von dem "Maler-Regisseur" Craig. Hier manifestiert sich zum ersten Mal deutlich die Verwischung traditioneller Gattungsbegriffe, und Uta Grund trägt mit einigen rein kunsthistorischen Betrachtungen zur Verankerung des Bühnenkünstlers Craig in der Geschichte der bildenden Kunst bei. Die Betrachtung und teilweise Neuinterpretation von Kandinskys "Bühnencompositionen" an dieser Stelle verdeutlicht nicht nur Craigs enormen Einfluss auf berühmtere Zeitgenossen, sondern verleiht dem Anspruch der vorliegenden Arbeit auf Interdisziplinarität bei der Untersuchung der Theaterreform um 1900 erneut Gewicht.
Der letzte, konsequente Schritt in Edward Gordon Craigs Entwicklung der Theaterinszenierung war die darstellende Architektur, in der die Bühne als performatives Medium menschliche Darsteller vollkommen verdrängt hat. Wenn Uta Grund im letzten Hauptteil der Untersuchung Craigs Idee der Architektur als autonomem Bedeutungsträger im zeitgenössischen Kulturkontext beleuchtet, wird deutlich, wie ein Kreis sich zu schließen beginnt. Hier zeigen sich auch die Stärken und Schwächen der vorliegenden Arbeit:
Nach der (zwangsläufig) theaterwissenschaftlich orientierten Einführung in das Thema der Theaterreform um 1900 und der anschließenden Betrachtung bedeutender interdisziplinärer Entwicklungen mit Hauptaugenmerk auf Craig, aber auch Kandinsky, fordern Craigs "scenes" eine überwiegend kunsthistorische Behandlung, da sie, im Unterschied zu ihren futuristischen Verwandten, die Uta Grund auf Konvergenzen und Unterschiede hin untersucht, als dreidimensionales Bühnenbild nie existierten.
Die Autorin kündigt im Vorwort den erstmaligen Versuch an, eine "[...] in weiten Teilen theaterhistorische Materie aus kunsthistorischer Perspektive zu untersuchen." Tatsächlich hat sie eine äußerst wertvolle Arbeit vorgelegt, die Aspekte der Theaterreform um 1900 und ausgewählte Phänomene der zeitgenössischen bildenden Kunst ebenso neu beleuchtet, wie sie dem Werk Edward Gordon Craigs eine erneute und erweiterte Würdigung zukommen lässt.
Eine tatsächliche Verbindung von kunsthistorischer Methodik und theaterhistorischem Untersuchungsgegenstand ist aber nur selten und ansatzweise zu verzeichnen. Mit dem Bezug auf die angekündigte Interdisziplinarität im Spannungsfeld zwischen den Wissenschaften wird deutlich, dass verschiedene kulturhistorische Aspekte eines Ganzen eine, gleichwohl integrierte, Konzentration auf die jeweils zuständige Wissenschaft erfordern. Dies ist Uta Grund allerdings gelungen.
Anmerkungen:
[1] Peter Simhandl: Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer. Berlin 1993.
[2] Vergleiche etwa Christopher Innes: Edward Gordon Craig. Cambridge, London, New York 1983.
Uta Grund: Zwischen den Künsten. Edward Gordon Craig und das Bildertheater um 1900, Berlin: Akademie Verlag 2002, 302 S., 53 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-003721-9, EUR 49,80
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