Es ist gerade heute, in Zeiten des freien Datenflusses und dinglosen Informationsaustausches eine sinnliche Freude, ein derart opulentes Werk in Händen zu halten. In drei blauen leinengebundenen Bänden mit silbern geprägtem Schriftzug und aufgelegten Abbildungen zu Shakespeares berühmtesten Dramen liegt jetzt eine Publikation vor, die man ohne zu zögern in Anspruch, Ausstattung, Umfang und Gestalt ein Opus magnum nennen kann. Die Mainzer Anglistin Hildegard Hammerschmidt-Hummel zeichnet als Herausgeberin für das Vorhaben verantwortlich. Sie beansprucht mit dem Werk nicht weniger darzubieten, als "eine repräsentative, alle Shakespeare-Dramen umfassende, kunst- und literaturwissenschaftlichen Kriterien genügende Bilddokumentation von den Anfängen bis zur Gegenwart" (Teil 1, XVII).
Den Liebhabern und Spezialisten des Shakespeareschen Werkes, den Anglisten, Theaterwissenschaftlern und Kunsthistorikern muss die Veröffentlichung hochwillkommen sein. Zumal sie auf einem über Jahrzehnte gepflegten, erweiterten und kontinuierlich wissenschaftlich betreuten Archiv fußt. Sein Grundstock bildet die Sammlung des 1982 verstorbenen Shakespeare-Spezialisten und Mitglieds der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur Horst Oppel, der bereits 1946 das Shakespeare-Bildarchiv in Mainz begründet hatte. 30 Jahre später entwickelte sich daraus das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Unternehmen "Die Shakespeare-Illustration", das ursprünglich auf eine Publikation von 10 Bänden angelegt war. Schon damals zielte das Projekt darauf ab, neben der "Sammlung und exemplarischen Edition von Illustrationen ausdrücklich auch die kunsthistorische, theaterkundliche und literaturgeschichtliche Auswertung" durchzuführen (Teil 1, XIII). Das Vorhaben konnte nach dem Tod Horst Oppels in dieser Form nicht abgeschlossen werden. Wie die DFG-Projektleiter Rudolf Böhm, Horst W. Drescher und Paul Goetsch im Vorwort darlegen, galt es nunmehr, sich "auf die Vervollständigung des Bildarchivs zu beschränken und es in geeigneter Form der internationalen Forschung zugänglich zu machen" (Teil 1, XIII).
Was beinhalten also die drei vorliegenden Bände? Genügen sie dem Anspruch der Herausgeberin, wonach große reflektierende und interpretierende Anteile zu erwarten sind oder ist eher ein kompilierender Katalog entstanden, wie er den Vorstellungen der DFG-Projektleiter zu entsprechen scheint? Was also ist der Extrakt der jahrzehntelangen Forschungsarbeit und -förderung über "Die Shakespeare-Illustration"?
Die Herausgeberin entschied sich für eine Aufteilung, die schlichter und uninspirierter kaum vorstellbar ist. Der erste Band, so möchte man noch wohlwollend und erwartungsvoll vermuten, enthält den Anteil der Reflexion. Jedenfalls wenn der ehrgeizigen Kapitelüberschrift "Geschichte, Funktion und Deutung bildkünstlerischer Werke zu Shakespeares Dramen" zu glauben ist. Es folgt darauf ein "Künstlerlexikon", das in knappster Form jene Künstler biografisch darstellt, die sich mit Shakespeare beschäftigt haben. Außerdem fügt sich hier eine "klassifizierte Bibliographie" ein. Band 2 und 3 bilden den Katalog der Illustrationen und verzeichnen diese, den Shakespeareschen Werken zugeordnet und deren Chronologie folgend.
Zweifellos sind demnach Teil 2 und 3 nicht mehr als eine Kompilation. Allein die Gliederung lässt es nicht zu, über die Bilder vergleichend zu reflektieren. In weitesten Teilen gilt dasselbe für das Künstlerlexikon in Band 1, zumal die Viten nicht über die biografischen Eckdaten hinausgehen und Shakespeare-Darstellungen des jeweiligen Künstlers nur faktisch und nicht einmal vollständig erwähnt werden. Ein (der Rezensentin gut bekanntes) Beispiel sei dazu herausgegriffen.
Ein Künstler, der in vielfältiger Weise Shakespeare rezipierte, war Adolph Menzel. Die einschlägige Literatur verzeichnet, neben zwei Bildnissen des Dramatikers, einer Tuschzeichnung (1850) und einem Holzstich (1850/52), zu seinen Werken zweierlei bildhafte Interpretationen: Holzschnitte als Umrahmung zu Illustrationen Shakespearescher Dramen (In: The complete works of William Shakespeare, Leipzig 1837) [1] und eine Ölgrisaille "König Heinrich VIII. beim Tanz mit Anna Boleyn" (1870). [2] Die Künstlervita der vorliegenden Publikation gibt aber nur die Darstellung über Heinrich VIII. und Anna Boleyn und dazu noch unwissenschaftlich als "Ölbild" an. Im Katalogband (Teil 3) findet sich dagegen dieses Bild als "Holzschnitt" wieder (674, Nummer 1691), der für die erste illustrierte Ausgabe der Shakespeareschen Werke von Richard Gosche und Benno Tschischwitz (1874) belegt wird (1118, Nummer 1691). All das bleibt jedoch unkommentiert und -verifiziert. Welchen wissenschaftlichen Wert muss man dem "Künstlerlexikon" also beimessen? Keinen erwähnenswerten, zumal die Herausgeberin selbst dazu entlarvend erklärt: "Rund 15 Prozent dieser Viten sind in den Standard-Nachschlagewerken nicht verzeichnet." (Teil 1, XXIII).
Kommen wir zu dem Abschnitt, der sich am intellektuell anspruchsvollsten geriert und der sich der Herkunft, Interpretation und Reflexion zu widmen verspricht. Wir finden hier auf etwa 150 Seiten, unterteilt in 33 knappen Artikeln, einen Ritt durch die Kunstgeschichte der Shakespeare-Bilder von "Renaissance und Barock" bis zu "jüngeren und jüngsten Visualisierungen" (Teil 1, VII, VIII). Es können allerdings bei dieserart Gruppierung nur kompilierende, höchstens ansatzweise auch interpretierende Zusammenfassungen entstehen, die einen ersten Blick auf das Spektrum der Shakespeare-Illustratoren und ihre Werke bieten. Eine fundierte kunsthistorische Analyse der Bilder, die mit historischer Distanz vorgenommen werden muss, fehlt. Zudem irritieren die Historikerin wissenschaftlich hilflos anmutende Beurteilungen, wenn beispielsweise die künstlerische Qualität von Johann Heinrich Rambergs Shakespeare-Bildern ausführlich gewertet wird (Teil 1, 48).
Nein, die Herausgeberin hat ihr hochgestecktes Ziel nicht erfüllt. Diese Veröffentlichung wird "alle Shakespeare-Dramen" umfassen. Eine "repräsentative Bilddokumentation" ist es nicht, und dass diese "kunst- und literaturwissenschaftlichen Kriterien" genüge, darüber möchte man schweigen.
Im besten Fall liegt hier eine Kompilation vor. Diese lässt sich, um einen produktiven Begriff aus der Psychologie anzuführen, als "primärprozesshaft" beschreiben. Das intellektuelle Durcharbeiten des Materials, die Reflexion über den historischen Kontext und die kunsthistorische Dimension fehlen. Man kann diese Sammlung wissenschaftsgeschichtlich in den Positivismus des 19. Jahrhunderts verorten. Jedenfalls bleibt die Arbeit ganz und gar unberührt von aktuellen Diskursen, wie der Rezeptionsgeschichte eines Gary Taylor beispielsweise. [3]
Man hätte der DFG Anfang der achtziger Jahre ein beherzteres Vorgehen gewünscht, als sie sich entschloss, das Projekt weiterhin zu fördern. Ihrem und dem Ansehen der Mainzer Akademie wäre es zugute gekommen, das damals von Horst Oppel zusammengestellte Material als "work-in-progress" zu belassen und es der Öffentlichkeit im Internet anzuvertrauen.
Anmerkungen:
[1] Elfried Bock, Adolph Menzel. Verzeichnis seines Graphischen Werkes, Berlin 1923, Nr. 407.
[2] Das Werk Adolph Menzels. Vom Künstler autorisierte Ausgabe. Mit Text von M. Jordan u. R. Dohme, München 1890, Teil 1, 94.
[3] Gary Taylor, Reinventing Shakespeare-A Cultural History from the Restoration to the Present, London 1989.
Hildegard Hammerschmidt-Hummel (Hg.): Die Shakespeare-Illustration (1594-2000). Bildkünstlerische Darstellungen zu den Dramen William Shakespeares: Katalog, Geschichte, Funktion und Deutung, Wiesbaden: Harrassowitz 2003, 3 Bde., 1568 S., 3100 Abb., ISBN 978-3-447-04626-8, EUR 228,00
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