Wer den Titel samt Untertitel liest, erwartet unwillkürlich eine Geschichte des mit dem Wiener Kongress beginnenden politischen Ringens um die außen- und innenpolitische Neugestaltung Europas. Man erwartet eine Darstellung der Versuche konservativ-reaktionärer Kräfte, die Errungenschaften der Französischen Revolution zurückzudrängen oder einzuhegen, sowie jener Entwicklung, die unter anderem über die Etappen von 1830 und 1840 hin zu nationalen und Verfassungsforderungen bis zur Revolution von 1848/49 führte.
Umso mehr überrascht es, wenn vom Wiener Kongress (von beiläufigen Bemerkungen abgesehen) gar keine Rede ist, in den ersten hundert Seiten ein großer Bogen um jede Art politischer Geschichte geschlagen wird und sich die Darstellung keineswegs an die vorgegebenen 35 Jahre gebunden sieht. Der Autor fühlt sich offenbar weniger einem durch den Titel suggerierten politischen als vielmehr einem ganzheitlichen Ansatz verpflichtet. Dieser lässt ihn erst ausführlich auf sozioökonomische, kulturelle und ideengeschichtliche Aspekte zu sprechen kommen, bevor er sich Institutionen wie Staat und Verwaltung sowie dem Handeln politischer Akteure widmet.
So berichten die ersten Kapitel über demografisches Wachstum, daraus resultierende Migrationsprozesse und Lebensbedingungen wie den Arbeitsalltag und Ernährungsgewohnheiten in Europa seit 1750. Der Leser erfährt manches über Krankheiten und deren Therapiemöglichkeiten ebenso wie über den allmählich einsetzenden Wandel von einer noch agrarisch dominierten Wirtschaft hin zur Industrialisierung mit ihren sozialen Schattenseiten. Der Aufstieg der Eisenbahn zum zentralen Wirtschaftsfaktor wie Katalysator von Kommunikation und Verkehr ist nachzulesen, ebenso wie die gesellschaftliche Rollenzuweisung nach Geschlechtszugehörigkeit, wo dem Mann, erkennbar schon an der Kleidung, die Sphäre der Öffentlichkeit, der Frau jedoch die des Heimes zugewiesen war. Dort war sie, deren Äußeres gerade nicht zweckmäßig, sondern verspielt und schutzbedürftig wirken sollte, verantwortlich für Stil und Harmonie, was sich im Klavierspiel der Bürgersgattin und höheren Tochter verkörperte. Die hypokrite Sexualmoral des Bürgertums ließ neben der romantischen Emphase das Bordellwesen neu erblühen. Aus diesen Niederungen des Alltags schwingt sich die Darstellung sodann auf zum Höhenkamm:
Entsprechend einem traditionellen Kulturbegriff widmet Brandt Religion, Bildung und den "schönen Künsten" ein ausführliches Kapitel, das streckenweise an literatur- oder kunst- beziehungsweise musikgeschichtliche Abhandlungen gemahnt.
Im Stile einer Ideengeschichte geht Brandt sodann den Ursprüngen von Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus nach, um sich schließlich dem Phänomen von Nation und Nationalismus zuzuwenden, welches als das eigentliche Signum des 19. Jahrhunderts eine besondere Betrachtung rechtfertige. Erst jetzt kommt Brandt auf die staatliche Verfasstheit einzelner Länder zu sprechen, die er je nach Relevanz der Volksvertretung zu Gruppen bündelt. Den nach sozialökonomischen Krisen aufkommenden europaweiten Revolutionsbewegungen ist das letzte Kapitel gewidmet.
Aus dieser knappen Inhaltsangabe sind bereits alle Vorzüge des Werkes, der breite Ansatz ebenso wie die über jeden Zweifel erhabene Kompetenz des Autors, aber eben auch alle Probleme des Bandes ersichtlich. Das vorrangigste betrifft die Legitimation des Werkes. Es bietet nichts, was nicht woanders bereits zu lesen wäre. Das ist nicht weiter tragisch, wenn es sich als Einführung in die Epoche eben nicht an Fachkollegen, sondern zum Beispiel an Studierende der Geschichtswissenschaft richtet. Wird man aber deren Wissensstand gerecht, wenn Kenntnisse über den Wiener Kongress oder das Hambacher Fest, deren Relevanz mehrfach betont wird, ohne auf die Ereignisse selbst einzugehen, einfach vorausgesetzt werden? Wenn Namen wie Chateaubriand (49) oder Begriffe wie Methodismus (48) ohne nähere Erläuterung fallen? Für eine Einführung wären auch Definitionen der Fachtermini wie Reaktion, Restauration, Verfassungspatriotismus oder Nationalismus (der zum Teil äquivalent zum Patriotismus verwendet wird) hilfreich gewesen. Hingegen ist die Definition von "Ideologien" als Kombination von Politik mit Philosophie, womit Brandt Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus als Ideologien und die Epoche als "Zeitalter der Ideologien" (77) deklarieren zu können meint, kaum hinreichend. Als Einführung für Studierende ist der Text aber vor allem dann nicht geeignet, wenn den Lesern nicht einmal Literatur zur Vertiefung genannt wird. Als besonders bedauerlich muss daher gelten, dass in einem Buch, das auf Anmerkungen verzichtet, nicht einmal im Literaturverzeichnis die herangezogenen Werke erwähnt sind. So nimmt Brand beispielsweise zwar explizit auf die neueren Forschungen Langewiesches zum Thema Nationalismus Bezug, ohne aber auch nur einen diesbezüglichen Titel des Tübingers aufzulisten!
Die Zeiten von (nationalen) Meistererzählungen sind obsolet, jedenfalls müht sich auch Brandt nicht mit dem Versuch einer kohärenten Erzählung, sondern bietet - durch die je separate Betrachtung von Wirtschaft, Sozialem, Kulturellem und Politik - eine Fragment-Agglomeration, von der man sich allerdings gewünscht hätte, dass die Einzelteile ein bisschen mehr verzahnt worden wären. Nachdem im Kulturteil die Romantik so breit analysiert worden ist, wäre es doch reizvoll gewesen, die Bedeutung des Romantikverständnisses von Friedrich Wilhelm IV. für die preußische Politik herauszuarbeiten. Stattdessen begnügt sich Brandt mit dem vagen Hinweis, dass der Monarch eine andere Romantik gekannt habe als jene, welche der Nationalismus inspirierte; dem unkundigen Leser bleibt nichts, als seine eigenen Deutungen hineinzuorakeln.
Dass manche Fragen offen und viele Zusammenhänge ungeklärt bleiben, liegt nicht zuletzt an dem der Reihe zugrunde gelegten Anspruch, eine Geschichte Europas zu präsentieren. Auch in dieser Hinsicht bleibt der Text zwangsläufig fragmentarisch. Dabei steht die nach wie vor nicht gelöste Frage im Raum, wie eine solche europäische Geschichte präsentiert werden kann, ohne dass aus Platzgründen allzu viel über einen Kamm geschoren wird und Details wie Differenzen bis zur Verfälschung vernachlässigt werden. Brandt versucht den Spagat zwischen zwei möglichen Ansätzen: Streckenweise liest sich das Buch wie eine deutsche Nationalgeschichte unter Berücksichtigung auch jener europäischen Ereignisse oder Geistesgaben, die deutsche Kultur und Politik zu beeinflussen vermochten. So sind auch die Theorien von John Stuart Mill oder Adam Smith ebenso wie der griechische Unabhängigkeitskrieg oder die polnischen Aufstände Teil der deutschen Geschichte. Dann wieder greift er einzelne Teilgebiete Europas heraus, deren Entwicklung er nacheinander präsentiert, wobei durchgängig nur die deutschen Länder, Frankreich und England zu "Europa" gezählt werden. Skandinavien kommt ebenso selten vor wie Spanien, von Portugal ist schon so gut wie gar keine Rede. So ist es weniger eine Geschichte Europas, als vielmehr die eines sich in Europa eingebettet wissenden Deutschland.
Hartwig Brandt: Europa 1815-1850. Reaktion, Konstitution, Revolution, Stuttgart: W. Kohlhammer 2002, 230 S., ISBN 978-3-17-014804-8, EUR 26,00
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