Dass die altehrwürdige Prager Universität ab 1882 in zweierlei nationaler Gestalt weitergeführt wurde, war - als "Verdopplung einer Universität" (Hans Lemberg, 21) - nicht nur ein institutionengeschichtliches Novum. Vielmehr erhielten damit auch zwei nationale Gesellschaften, die sich auf demselben historischen Territorium gebildet hatten, ihre führende wissenschaftliche und kulturelle Institution. Und in der Zwischenkriegszeit existierte in jenen Staaten, die sich selbst als Nationalstaaten verstanden (in denen allerdings neben der Titularnation verschiedene andere Nationalitäten lebten), nur in Prag eine "staatliche Minderheitenuniversität" (Jiří Pešek, 151). So stellte sich unter den verschiedenen politischen Systemen in der Zeit von 1882 bis 1939 (als die Tschechische Universität von den Nationalsozialisten gewaltsam geschlossen wurde) die Frage nach Kooperation und Konkurrenz dieser beiden Universitäten an einem Ort. (Einige weitere Aspekte dieser besonderen Konstellation hebt der Herausgeber auf Seite 5 hervor, unter anderem die völlige Parallelität seit 1882, die erst 1920 ins Ungleichgewicht gebracht wurde; die Funktion zweier Hauptstadt-Universitäten seit 1918; den tschechisch-deutschen Dualismus, für den die Universitäten quasi den "Brennspiegel" bildeten; die "typische Aufgipfelung der wechselseitigen Repression".).
Zunächst resümiert Hans Lemberg die (an sich bekannte) Vorgeschichte der Teilung, stellt sie durch den Rückblick auf die Abtrennung einer eigenständigen Juristenuniversität 1372 und die Trennung entlang der Konfessionsgrenze durch Gründung einer Jesuiten-Akademie 1562 aber in einen größeren historischen Kontext und bietet eine ausgewogene Bewertung der Entstehung und der Koexistenz der verdoppelten Universität (19-32). Ergänzend arbeitet der Wissenschaftshistoriker Dieter Hoffmann die Haltung des Physikers und damaligen Rektors Ernst Mach in der Teilungszeit heraus, die er - entgegen bisherigen Einschätzungen - als eine im Wesentlichen kompromissbereite, vermittelnde und zugleich auch realistische charakterisiert (33-61).
Leider entsprechen nicht alle Aufsätze dem modernen Stand der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, und auch die Einbettung der beiden Universitäten in die jeweilige Gesellschaft, die Lemberg einleitend hervorhebt (5), wird nicht in allen Beiträgen hinreichend (oder überhaupt) deutlich. (Das gilt insbesondere für die Kompilationen zu Berufungsdaten, Arbeitsgebieten oder Publikationen der einzelnen Professoren der beiden juristischen Fakultäten 1900-1939 [Helmut Slapnicka, 63-84] und zu den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus aus den beiden Prager Universitäten [Rudolf M. Wlaschek, 195-205]). Auch die Beziehungen zwischen den beiden Universitäten werden kaum erörtert: Kooperation gab es, wie beiläufig mehrfach versichert wird, kaum - aber auch die Konkurrenz wird, trotz des Interesse heischenden Titels, kaum sichtbar. Etwas eingehender kommt - als Teil der Erörterung der Stellung der "Prager Universitäten im öffentlichen Leben der ersten Tschechoslowakischen Republik" (Michal Svatoš, 135-143) - nur das gespannte Verhältnis in der Zwischenkriegszeit zur Sprache, das im so genannten Insignien-Streit gipfelte: 1934 konnte die Tschechische Universität endlich die Übergabe der Insignien der alten Karl-Ferdinand-Universität, die bei der Teilung 1882 der Deutschen, im Gesetz von 1920 aber der Tschechischen Universität zugesprochen worden waren, erlangen. Ergänzt wird diese Darstellung durch die Aufzählung von Absolventen in öffentlichen Ämtern und Titeln literarischer Werke, in denen das Universitätsleben geschildert wird, sowie durch kurze Bemerkungen über die Instrumentalisierung der Universitätsgeschichte zur eigenen Legitimation.
Die meisten Beiträge aber widmen sich nur einer der beiden Universitäten. Den "Versuch eines Vergleichs" unternimmt als einziger Jiří Pešek (145-166). Für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts untersucht er - nach generellen Überlegungen zur Funktion von Universitäten sowie einer Skizze der politischen Rahmenbedingungen - die Studentenschaft und die wissenschaftlichen Aktivitäten in Forschung und Lehre. Zum ersten Komplex gehören vor allem Daten zur Frequenz sowie zur sozialen und regionalen Herkunft, wobei letztere aber nur für die späten Achtzigerjahre dokumentiert werden. Interessant wäre hier die Frage, wie sich der damals hohe Anteil von Bauernsöhnen an der Tschechischen Universität und der hohe Beamtenanteil an der Deutschen in der ČSR entwickelten. Die wissenschaftliche Tätigkeit prüft Pešek anhand der fertig gestellten Dissertationen in drei (jeweils vier Jahre umfassenden) "Querschnitten", wobei an beiden Universitäten ein beträchtliches Wachstum von der Zeit um 1900 zum Anfang der Zwanzigerjahre festzustellen ist. In den frühen Dreißigern stagnierte dagegen die Zahl an der Tschechischen Universität, während sie sich an der Deutschen verdoppelte. Pešek vermutet, dass die deutschen Studenten kaum auf eine Anstellung im Staats- beziehungsweise Schuldienst hofften und sich deshalb mit dem Doktordiplom die Tür zu anderen Berufen, auch im Ausland, öffnen wollten.
Zwei Fallstudien gelten einzelnen Fächern: Pavel Kolář untersucht Berufungsverfahren der Historiker der Deutschen Universität "unter zwei Regimen" und arbeitet dabei die innerfachliche Schwerpunktbildung und -verlagerung heraus (85-114), die allerdings "ohne entsprechende Veränderungen auf der institutionellen Ebene und somit ohne dauerhafte Reproduktionsmöglichkeiten" blieb (113). Da Kolář in seiner Dissertation auch die Wiener und die Berliner Universität untersucht hat, vermag er seine Befunde in einen breiteren Kontext einzuordnen. Demnach erwiesen sich die Prager "Institutionalisierungs- bzw. Spezialisierungsprozesse im gesamtdeutschen Vergleich als eher zurückhaltend", und die Berufungsverhandlungen verliefen auffällig "konsensfähig und konfliktarm" (113).
Lenka Pokorná beleuchtet die Anfänge der tschechischen Germanistik, indem sie Bildungsgang, Laufbahn und wissenschaftliche Tätigkeit der ersten beiden Fachvertreter an der Tschechischen Universität untersucht (115-133). Dabei spielten die Beziehungen zwischen deutscher und tschechischer Literatur eine wichtige Rolle, in der Literaturwissenschaft dominierten die Germano-Bohemica geradezu. Beide Gelehrten sahen sich als Vermittler und wirkten auch in der Öffentlichkeit - wobei das deutsche Publikum aber einer "Čechischen Revue" in deutscher Sprache keine Chance gab.
Alena Míšková untersucht (167-175) die "Umwandlung" der Prager Deutschen Universität "in eine 'durchschnittliche' nationalsozialistische Universität" (175). Nachdem bis 1940 nur 39% der Lehrenden der Zwischenkriegszeit der NSDAP beigetreten waren, wurden verstärkt Deutsche aus dem Reich berufen, sodass der Anteil der Parteimitglieder bei Kriegsende bei 62,5% lag. Allerdings wirkten bei der Gleichschaltung "auch einige alte Prager Hochschullehrer sehr aktiv mit" (175). Die Berufungswelle führte auch zur Einrichtung neuer Lehrstühle und Institute für diverse rassenkundliche Fächer (170). In einem weiteren Aufsatz (177-193) geht Míšková den Spannungen innerhalb der Deutschen Universität 1938-1945 nach und rekonstruiert die Bildung der "volkspolitischen Gruppe" sowie der (in sich zersplitterten) Gruppe ihrer Opponenten. Erst Ende 1944 gelang es der "volkspolitischen Gruppe", die gesamte Universitätsleitung zu stellen - aber noch im März 1945 konnten ihre Gegner verhindern, dass der Anführer der Gruppe in die Deutsche Akademie der Wissenschaften in Prag gewählt wurde. Abschließend gibt Jan Havránek einen Überblick über die Wiederherstellung der Tschechischen Universitäten in den ersten Nachkriegsjahren bis zum Frühjahr 1948 (207-214).
Der Band macht (trotz einiger nicht ganz adäquater Formulierungen) auch die außergewöhnliche Stellung deutlich, die Juden hier - wie sonst vielleicht nur noch in Czernowitz und (in geringerem Maße) in Straßburg - an einer deutschen Universität gewinnen konnten: indem sie nämlich nicht nur einen hohen Anteil der Studenten stellten, sondern auch als beamtete, weitgehend gleichberechtigte Hochschullehrer wirken konnten. Als Überrepräsentation erscheint dies allerdings nur dann, wenn man den Anteil auf die Gesamtbevölkerung bezieht, ohne die Verstädterung und spezifische Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung mitzubedenken.
Die Forderung des Herausgebers, die Prager mit anderen deutschen Universitäten zu vergleichen, kann man nur unterstützen. Erste Ansätze sind in einigen der vorliegenden Beiträge wie auch anderswo bereits gemacht.
Hans Lemberg (Hg.): Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 86), München: Oldenbourg 2003, VII + 224 S., ISBN 978-3-486-56392-4, EUR 39,80
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