Der Herausgeber des zu besprechenden Sammelbandes war gut beraten, für die inzwischen en vogue gewordenen Fragen nach der Bedeutung wissenschaftlich-technischer Konzepte und Praktiken für die visuelle Kultur der Moderne das Beispiel der Fotografie zu wählen. Dies gibt seiner Sammlung eine Kohärenz, die im Meer der inzwischen erschienenen Literatur zum Thema Visualisierung hervorsticht.
An der Fotografie will Geimer zudem wissenschafts-, kunst- und technikgeschichtliche Perspektiven zusammenbringen, die sich häufig noch in Unkenntnis untereinander mit der Geschichte dieser Bildtechnik befassen. Deutlich wird auch in diesem Band, dass die Interessen, die die drei Disziplinen an die Analyse eines vermeintlich einheitlichen historischen Objekts knüpfen, unterschiedlich sind. Das kann kaum verwundern, oszillierte doch die Fotografie selbst seit ihrer Entstehung im frühen 19. Jahrhundert zwischen wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Bestimmungen, wie Geimer einführend bemerkt. Die Fruchtbarkeit einer solchen Zusammenschau kann also eher in der Komplementarität der Ansätze vermutet werden als in üblichen Versprechungen einer Inter- oder Transdisziplinarität, die so häufig zu lesen sind. Wer sich nun der Mühe unterzieht, die Beiträge der jeweils anderen Disziplin mit gleicher Aufmerksamkeit zu studieren wie die der eigenen, wird auch hier belohnt. Eröffnet wird ein Assoziationsraum, der für eine kontextualisierte und umfassende historische Analyse fotografischer Bilder und Techniken notwendig erscheint. Ihn in seiner historischen Komplexität zu überschauen und gründlich durchzuarbeiten, ist wohl kaum für eine Person zu leisten. Geimers Sammelband ist in diesem Sinne mehr als die Summe seiner Teile. Als passendes Verbindungswort führt er den Begriff der Sichtbarkeit ein, der bereits im Obertitel steckt. Dabei markiert er die Zeit um 1900 als jene, in der sich Wissenschaftler vermehrt in Phänomenbereiche wagten, die vordem als unsichtbar galten und damit neue Ordnungen des Sichtbaren herstellten.
Am einfachsten lassen sich die wissenschaftshistorischen Beiträge identifizieren, die zudem alle sehr gut zueinander passen. Dies liegt daran, dass sie sich auf die vor etwas mehr als zehn Jahren von Daston und Galison aufgestellte These von der Zentralität der Fotografie für das Versprechen nach Objektivität der abgebildeten Gegenstände beziehen. Das fotografische Verfahren überzeugte in den Wissenschaften, nicht wegen einer vermeintlichen Naturtreue der Bilder, sondern weil bei ihm scheinbar jede menschliche Vermittlung ausgeschaltet war. Daston und Galison sehen hierin das brauchbarste Instrument, mit dem Wissenschaftler dem Ideal der mechanischen Objektivität am nächsten kamen. Geimer hat ihren preisgekrönten Essay "The Image of Objectivity" hier erstmals im Deutschen abdruckt, was sich als Glücksgriff erweist. In dieser Sammlung erscheint er als hilfreicher Vorspann für die wissenschaftshistorische Debatte nach Geimers eigener Einführung. Die Autoren spannen einen großen Bogen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert und diskutieren die epistemischen Brüche in den Aufzeichnungstraditionen detailliert an Beispielen aus verschiedenen Forschungsgebieten. In den folgenden Studien werden das Spektrum der Disziplinen erweitert, die These differenziert und dabei exzellente Miniatureinblicke in die Auseinandersetzungen um diese neue Visualisierungstechnik geliefert. Alex-Soojung-Kim Pang zeigt auf, wie und warum in der Astronomie die Fotografie nach 1880 die Oberhand gegenüber der Zeichnung gewinnen konnte. Joel Snyder (der als Kunsthistoriker mit einem wissenschaftshistorischen Beitrag vertreten ist), differenziert Dastons und Galisons Interpretation von Mareys Bewegungsbildern, mit denen unsichtbare Phänomene zeigbar wurden, die wahrzunehmen für den Betrachter auf andere Weise unmöglich war. Tal Golan führt vor, wie es gelang, fotografische Bilder zu unabhängigen Beweisstücken im Gerichtsprozess zu etablieren. Michael Hagner bettet die Praxis der fotografischen Technik in das Forschungsfeld der physischen Anthropologie ein und zeigt ähnlich wie Jutta Schickore am Beispiel der mikroskopisch arbeitenden Botanik, wie schwer sie es hatte, sich gegenüber den etablierten Aufzeichnungstechniken wie Zahlen, Tabellen, Statistiken beziehungsweise Zeichnungen und Dauerpräparaten zu behaupten. Die bestehenden Methoden erwiesen sich vielfach als dauerhafter, besser handhabbar oder für die gesuchte wissenschaftliche Erkenntnis erfolgversprechender. Schließlich arbeitet Christoph Hoffmann an den ballistisch-fotografischen Versuchen von Mach und Salcher heraus, wie hier die Fotografie dem Ziel eines physikalischen Experiments vollkommen untergeordnet wurde und danach wieder aus dem Interesse der Forscher verschwand. Die Zusammenschau zeigt, die These von der Fotografie als Herzstück einer mechanisch erzeugten und damit überlegenden Objektivität ist zu differenzieren. Das historische Bild der Einführung der Fotografie in die modernen Wissenschaften ist kein einheitliches. Der Diskurs verlief in verschiedenen disziplinären Kontexten unterschiedlich. Andere Aufzeichnungstechniken wurden von ihr nicht verdrängt oder ersetzt, sondern es verschoben sich allmählich Interessen und Forschungsfelder, aber dann grundlegend. Der Blick ins Detail zeigt, die Fotografie war dort am erfolgreichsten, wo es gelang, mit ihr neue Forschungsfragen zu formulieren. Dabei konnte sie zwischen Forschung- und Darstellungsprozess in den einzelnen Disziplinen ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen, die zudem nicht für immer festgelegt waren.
Aus der Wissenschaftsgeschichte heraus- und in den Bereich der Kunst hineinragend ist das Thema des Aufsatzes von Irene Albers. Sie nimmt Zolas Selbstbeschreibung als "Photograph der Erscheinungen" ernst, rückt seine Arbeitsweise in die Nähe zur experimentellen Methode von Bernard, was dieser in seinem Experimentalroman von 1880 nahe legt, und zeigt auf, welche Bedeutung die Fotografie als visuelle Praxis für den naturalistischen Roman einnahm. Die kunsthistorischen Beiträge widmen sich nun grundsätzlichen Fragen der Sicht- und Unsichtbarkeit. Peter Geimer ist fotografischen Unfällen auf der Spur und diskutiert damit Bilder, die keine wurden, kennzeichnet sie im Fehlen einer Intention und möchte sie in die Erfolgsgeschichte der Fotografie aufgenommen wissen. Wolfgang Ullrich betont die Funktion der Unschärfe für den Kunstbegriff und diskutiert an der künstlerisch ausgerichteten Fotografie, wie sich ihre Vertreter der Abbildgenauigkeit bewusst entzogen und einen stupiden Mechanismus ablehnten. Gut dazu passend verbindet Michel Frizot teilweise gleiche Beispiele aus dem Piktoralismus zwischen 1895 und 1910 (zum Beispiel Steichen) mit einem Diskurs über das negative Bild, dessen wissenschaftsgeschichtliche Spurensuche ihn zum Begriff des Negativen in der Mathematik und dem Fluidumskonzept in der Elektrizität führen. Georges Didi-Hubermann führt in seinem Beitrag das Familienfoto eines Physikers vor, in dem eine Person mit einem Bleistift ausgestrichen wurde, und problematisiert daran, wie die Ideale des Porträts und der Exaktheit der fotografischen Fixierung unterlaufen wurden. Auch in den kunsthistorischen Beiträgen wird die Rhetorik der mechanischen Objektivität fotografischer Bilder dekonstruiert und der Aspekt ihrer Fabrikation herausgearbeitet. Während in den Wissenschaften nur das zum Fakt wurde, von dem behauptet werden konnte, es repräsentiere etwas, was vorher zwar nicht sichtbar gewesen war, aber doch existiert, mussten sich die künstlerischen Fotografen gerade von den abbildhaften Kopierern der Wirklichkeit abgrenzen. Beide Fraktionen ordneten mit der Fotografie das Verhältnis von Sicht- und Unsichtbarkeit neu.
Geimer trägt mit seinem Band zu einem fruchtbaren Dialog zwischen wissenschafts- und kunsthistorischer Forschung bei. Was technikhistorisch zur Fotografie gesagt wird, bezieht sich auf den physikalisch-chemischen Prozess der Entwicklung und wurde in die entsprechenden Fallstudien eingearbeitet. Die wissenschaftshistorischen und besonders die im Original englischsprachlichen Texte sind wegen ihrer klaren Struktur und Argumentation am besten lesbar und deshalb besonders geeignet für eine interdisziplinäre Lektüre. Mit vier Übersetzungen und acht Originalbeiträgen ist Geimer ein sehr brauchbarer Reader zu den verschiedenen Kontexten, in denen die fotografische Technik entwickelt, diskutiert und genutzt wurde, gelungen. Er fördert zudem die Rezeption international anerkannter Forschung im deutschsprachigen Raum. Die Sammlung wird denen am Besten gefallen, die sich für Fragen der Visualisierung interessieren und sich von historisch kontextualisierten Antworten überzeugen lassen.
Anmerkung:
Der Rezension lag die 1. Auflage des Buches zu Grunde. Eine zweite Auflage ist in Vorbereitung.
Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2002, 443 S., ISBN 978-3-518-29138-2, EUR 15,00
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