"Der rechtlichen Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Kammergericht entspricht die tatsächliche; das Reichskammergericht war auch äußerlich die Fortsetzung des am Hof Maximilians [...] tätigen königlichen Kammergerichts." Diese Kontinuitätsthese ist alt: Rudolf Smend hat sie 1911 in seinem Grundlagenwerk "Das Reichskammergericht" formuliert (Teil I, 67). Die Reformbeschlüsse des Wormser Reichstags von 1495 wären dann nicht der folgenreiche Anfangspunkt einer Gerichtsorientiertheit in der deutschen Verfassungsgeschichte, die auch das gegenwärtige Verfassungsdenken und Verfassungsrecht prägt. Aber erschöpfen sich die Reformbeschlüsse von 1495 wirklich in einigen gerichtsverfassungsrechtlichen und organisatorischen Neuerungen von untergeordneter Bedeutung?
Der Versuch der Bestätigung, Widerlegung oder Präzisierung der Kontinuitätsthese zieht sich - explizit oder unausgesprochen - wie ein roter Faden durch den Tagungsband "Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens". Herausgegeben worden ist er vom Altmeister der Reichskammergerichtsforschung Bernhard Diestelkamp als Band 45 der Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Der Band dokumentiert die Vorträge der Tagung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung im Jahr 2002.
Die Behandlung des Zeitraums von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts schließt eine gewisse Lücke in den Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich, die seit 20 Jahren erheblich intensiviert ist. Die fortschreitende Quellenerschließung zum 15. Jahrhundert - etwa die von Heinrich Koller seit 1982 herausgegebenen Regesten Kaiser Friedrichs III. - ermöglicht inzwischen vertiefte Einblicke in die Jurisdiktion auf Reichsebene vor 1495. Damit ist die Grundlage gegeben, um ältere Thesen wie die Kontinuitätsthese Smends erneut und fundiert zu diskutieren.
Die Beiträge des Tagungsbandes decken nicht nur einen größeren Zeitraum von mehreren Jahrzehnten ab, sondern sind auch in ihren thematischen und methodischen Zugriffen weit gespannt: von einer Makroanalyse der politischen Rahmenbedingungen der Reformbeschlüsse von 1495 (Peter Schmid) bis hin zu Einzelanalysen ausgewählter Prozessakten (Ralf Mitsch) oder Detailstudien des Prozessaufkommens am Reichskammergericht aus dem Nordwesten des Reiches (Matthias Kordes).
Im ersten Beitrag behandelt Ralf Mitsch die Gerichts- und Schlichtungskommissionen Kaiser Friedrichs III. während seiner langen Regierungszeit zwischen 1440 und 1493. Ad hoc eingesetzt und mit begrenzten Sondervollmachten ausgestattet, sollten derartige Kommissionen anstelle des Reichsoberhaupts Herrschaftsaufgaben wahrnehmen. Mehr als die Hälfte der Kommissionen, von denen bislang über 3.000 nachgewiesen wurden, waren zur Streitentscheidung oder Streitschlichtung tätig. Sie wurden von Friedrich III. gezielt eingesetzt, um seinen Jurisdiktionsanspruch in der Verfassungswirklichkeit durchzusetzen. Dementsprechend stießen sie auf den entschiedenen Widerstand der Stände, als seit 1486 intensiv über die Reform der Gerichtsbarkeit im Reich beraten wurde. Die Kommissionen werden von Mitsch als Kompensation dafür interpretiert, dass eine dauerhafte königliche Verwaltungs- und Gerichtsorganisation auf Reichsebene im 15. Jahrhundert nur unzureichend entwickelt war; insbesondere tagte das königliche Kammergericht nur unregelmäßig.
Dieses Königsgericht sprach durch den König oder einen Stellvertreter und eine unterschiedliche Zahl von Räten am Königshof Recht. Seinem Wirken zwischen 1451 und 1493 ist der zweite Beitrag von Julia Maurer gewidmet. Sie verficht die Kontinuitätsthese Smends: Das Reichskammergericht habe nach 1495 nahtlos an die Tätigkeit des Kammergerichts aus dem 15. Jahrhundert anknüpfen können. Im Zentrum ihrer Darstellung stehen über weite Strecken statistische Angaben über das Prozessaufkommen und die regionale und soziale Herkunft der Streitparteien, zudem einige Fallstudien. Die Analyse der Gerichtsverfassung und vor allem des Verfahrens des Kammergerichts, die die Kontinuitätsthese hätte stützen können, bleibt dagegen vergleichsweise blass und greift weitgehend auf die 1871 publizierte Arbeit von Otto Franklin über das "Königliche Kammergericht vor dem Jahre 1495" zurück.
Die Studien zum Reichskammergericht konzentrieren sich auf die personellen und äußeren Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit: Jost Hausmann schildert zunächst die wechselnden Residenzen des Reichskammergerichts bis Speyer. Anette Baumann thematisiert die Prokuratoren am Reichskammergericht, die im Gegensatz zu den Assessoren bislang nur in wenigen Einzelstudien erforscht sind. Sie weist eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung der Prokuratur am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten nach. Die Kurzbiografien von 58 Prokuratoren unterstreichen eine Beobachtung, die schon vor längerem für die Assessoren gemacht wurde [1] und inzwischen erhärtet ist: Zahlreiche Juristen wechselten mehrfach zwischen einer Tätigkeit im Umfeld des Reichskammergerichts und im Dienst eines Landesherrn. Für den prägenden Einfluss des Reichskammergerichts auf die Landesgerichtsbarkeit [2] waren diese personellen Verbindungen, die Anette Baumann nun erstmals auch für die Prokuratoren nachgewiesen hat, von grundlegender Bedeutung.
Matthias Kordes wirft die Frage nach Kontinuitäten diesseits und jenseits von 1495 explizit auf und verfolgt sie mit einem viel versprechenden Ansatz: Er untersucht, ob einzelnen Reichskammergerichtsakten retrospektiv verwertbare Informationen über die Zeit vor 1495 enthalten. Die Kontinuitätsthese wäre insbesondere erhärtet, wenn Prozesse vom Reichskammergericht fortgeführt wurden, die bereits beim königlichen Kammergericht anhängig waren. In der Tat gelingt es Kordes nachzuweisen, dass sich der Geschäftsgang des Reichskammergerichts seit 1495 an den bisherigen anschloss und laufende Prozesse fortgeführt wurden.
Der Tagungsband schließt mit einer umfangreichen Untersuchung von Eva Ortlieb zur Entstehung des Reichshofrats, der in den folgenden Jahrhunderten in einer - letztlich ungeklärten - Konkurrenz zum Reichskammergericht Recht sprach.
Die Einzelstudien haben höchst beachtliche Ergebnisse zur obersten Gerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich vor und nach 1495 erbracht. Sie verdeutlichen, dass das Reichskammergericht keine voraussetzungslose Neugründung gewesen ist, sondern vieles aus dem 15. Jahrhundert fortführte und übernahm: in genereller Hinsicht die Streitentscheidungsfunktionen, die von kaiserlichen Kommissionen und dem königlichen Kammergericht wahrgenommen worden waren, in konkreter Hinsicht einzelne Prozesse und zumindest Elemente aus dem Geschäftsgang und dem Verfahrensrecht des Kammergerichts. Ein wesentlicher und folgenreicher Unterschied bleibt, nämlich die Separation des Reichskammergerichts vom Königshof. Sie als rein räumliche Trennung zu interpretieren würde die Konsequenzen außer Acht lassen, die diese Loslösung hatte. Sie stützte nicht nur die sachliche Unabhängigkeit des Gerichts, sondern war auch Voraussetzung dafür, dass ein personell eigenständiges Zentrum der Gerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich entstand, von dem nachhaltige Entwicklungsimpulse für das Recht und den Rechtsschutz in den Territorien des Reiches ausgingen.
Anmerkungen:
[1] Bernhard Diestelkamp: Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Becker (Hg.): Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler, Aalen 1976, 435-480, hier 452 ff.
[2] Gernot Sydow: Das Verhältnis von Landes- und Reichsgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich. Eine Neubewertung der privilegia de non appellando, in: Der Staat 41 (2002), 263-284, hier 271 ff.
Bernhard Diestelkamp (Hg.): Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (14511527) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 45), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, V + 289 S., ISBN 978-3-412-12703-9, EUR 39,90
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