Kein anderer Rhetor des klassischen Athen ist auch nur annähernd so oft in biografischen Studien gewürdigt worden wie Demosthenes. Als Grund dafür ist zum einen die vergleichsweise gute Quellenlage anzunehmen, zum anderen aber die Tatsache, dass Demosthenes es in besonderem Maße vermocht hat, die Zeitgenossen wie die Nachwelt zu polarisieren. Ex post ästimiert man ihn entweder als einen der entschiedensten Vorkämpfer für die Autonomie der griechischen Poleis gegenüber der makedonischen Expansion beziehungsweise lobt ihn zumindest als herausragenden Redner, der stilbildend gewirkt habe, oder aber man kritisiert ihn als einen großen Verlierer, der die Zeichen der Zeit nicht verstanden und vergeblich versucht habe, der Herausbildung einer monarchisch verfassten größeren politischen Einheit der Griechen entgegenzuwirken.
Gustav Adolf Lehmann zeigt in seiner fundierten Demosthenes-Biografie zunächst detailliert auf, unter welchen historischen Bedingungen sich die divergierenden Bilder des Redners bereits in der Antike herausgebildet haben und wie sie in der späteren Rezeption, ebenfalls geprägt durch die zeitspezifischen Erfahrungen und Interessen der einzelnen Autoren, weiterentwickelt worden sind.
Wie bereits der Untertitel des Werkes ("Ein Leben für die Freiheit") andeutet, bezieht Lehmann in dieser Kontroverse eindeutig Position, indem er sich der erstgenannten Einschätzung anschließt. Er befindet sich damit in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der heutigen Althistoriker, die sich zu der Thematik äußern. Der Umstand, dass sich diese Position gegenwärtig durchzusetzen scheint, hat nicht nur mit heutigen politischen Präferenzen zu tun, sondern ist auch durch die Ergebnisse der aktuellen althistorischen Forschung zum Griechenland des vierten Jahrhunderts bedingt. So ist zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden, dass die nachfolgenden hellenistischen Gemeinwesen nichts mit den Nationalstaaten der späteren europäischen Geschichte zu tun haben. Entsprechend kann es nur als anachronistisch bewertet werden, wenn man Demosthenes vorhält, sich einer Entwicklung in diese Richtung widersetzt zu haben. Bedeutsam ist in dem Zusammenhang auch, dass sich die Forschung in jüngster Zeit verstärkt der Erkundung der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts zugewandt hat und Demosthenes damit zunehmend aus athenischer und nicht mehr - wie in der Vergangenheit verbreitet - primär aus makedonischer Perspektive betrachtet. Insgesamt wird vielfach herausgestrichen, dass die politische Ordnung der Athener nach dem Peloponnesischen Krieg und im Verlaufe des vierten Jahrhunderts zwar eine Reihe von Modifikationen erfährt, dass es aber problematisch ist, von einem Niedergang der Demokratie und des demokratischen Bewusstseins in der Stadt zu sprechen. Auch wenn in dem Zusammenhang noch nicht in jeder Hinsicht Konsens erzielt ist, so ist man sich im Fach zumindest darin einig, dass die attische Demokratie nicht an inneren Defiziten gescheitert ist. Entsprechend ist Demosthenes mit Blick auf Athen nicht vorzuwerfen, für eine ineffektive politische Organisationsform eingetreten zu sein.
Lehmanns Demosthenes-Biografie zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie den Rhetor konsequent im Athen des vierten Jahrhunderts verortet und dabei einen guten Überblick über die athenische Geschichte der Zeit gibt. Außerdem bietet sie ausführliche Hintergrundinformationen zu allen angesprochen Bereichen des politischen, sozialen und kulturellen Lebens, die es gerade auch einem breiteren Publikum erlauben, sich ein zuverlässiges Bild des Demosthenes und seiner Epoche zu machen. So wird etwa ein Abriss des attischen Gerichtswesens geboten oder die spezifische Mentalität der Polisbürger erörtert. Ein ausführliches Glossar zu den politischen Institutionen und wichtigsten Begriffen der politischen Geschichte ermöglicht auch Lesern ohne Vorkenntnisse einen guten Einstieg in die Thematik.
Ein weiteres Merkmal dieser Biografie ist, dass sie zentrale Forschungskontroversen anspricht, die teils sehr grundsätzlicher Art sind, etwa die, ob sich der moderne Parteienbegriff auf die athenische Politik im vierten Jahrhundert anwenden lässt, teils aber auch spezieller, beispielsweise die Auseinandersetzungen darüber, welches Verhältnis Demosthenes zur Gruppe um Eubulos hatte, oder ob es sich empfiehlt, die 'Erste Philippische Rede' nach der 'Rede für die Freiheit der Rhodier' anzusetzen, um die Schwierigkeit zu bewältigen, dass in Ersterer die Ausrichtung auf Makedonien bereits das zentrale Moment der außenpolitischen Überlegungen des Demosthenes darstellt, während dies in Letzterer keine Rolle zu spielen scheint, sondern der herkömmliche 'Systemkonflikt' zwischen Demokratie und Oligarchie bestimmend ist. Lehmann skizziert hier jeweils die Problemlagen und bezieht begründet Stellung. Auch diese Passagen sind leicht verständlich. Leser, die sich über die erste Orientierung hinaus mit einzelnen Aspekten und ihrer Behandlung in der Forschung beschäftigen möchten, erhalten zuverlässige Hinweise durch die Endnoten und das Literaturverzeichnis.
Eine besondere Stärke dieser Demosthenes-Biografie ist weiterhin darin zu sehen, dass sie im Wesentlichen aus den Quellen geschrieben ist, das heißt insbesondere aus den Reden des Demosthenes selbst. Dadurch wird eine hohe Anschaulichkeit und Lebendigkeit erreicht. Der Leser wird überdies in die Lage versetzt, Aussagen der Literatur zu überprüfen, und erhält zugleich einen guten Einblick in die Quellenlage und die Möglichkeiten der Auswertung der verschiedenen Zeugnisse.
Gustav Adolf Lehmann: Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit, München: C.H.Beck 2004, 284 S., ISBN 978-3-406-51607-8, EUR 24,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.