Astrid Eckerts Berliner Dissertation, ausgezeichnet mit dem Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes deutscher Historikerinnen und Historiker, ist ein wichtiges Stück Zeitgeschichtsschreibung. Eckerts Studie steht an der Schnittstelle zwischen Diplomatie-, Institutionen- und Historiografiegeschichte, und einer ihrer wesentlichen Vorzüge ist es, dass der Autorin diese Verbindung vortrefflich gelingt. So kann sie mit einem auf den ersten Blick unspektakulären Thema ein erhellendes Schlaglicht auf die Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945-1960 werfen.
Die Studie behandelt die Beschlagnahmung von deutschem Archivgut durch die Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg sowie das Tauziehen um die Rückgabe der Akten, das 1958 einen vorläufigen Schlusspunkt fand. Eckert nimmt vier Aspekte in den Blick: die Rückgabestrategien amerikanischer und britischer Regierungsstellen, die offizielle Politik der Regierung Adenauer, die Einflussnahme der Archivare aus den beteiligten Ländern und die Rolle führender Historiker in den USA, Großbritannien und Westdeutschland, die ein spezifisches Eigeninteresse an den westdeutschen Akten hatten.
Im ersten Kapitel schildert Eckert zunächst die Beschlagnahmungen deutscher Akten durch Amerikaner und Briten bis 1949. Diese waren, wie die Autorin zeigt, integraler Bestandteil der westalliierten Entmilitarisierungspolitik und sollten verhindern helfen, dass eine zukünftige deutsche Regierung erneut einen Angriffskrieg vom Zaun brach. Deshalb brachten Amerikaner und Briten in erster Linie die Akten des Auswärtigen Amtes, der Reichsressorts und der Reichswehr/Wehrmacht in ihren Besitz. Ausführlich schildert Eckert die verschlungenen Pfade, die diese Akten bis 1948/49 nahmen. Nach der Beschlagnahme waren sie, nicht zuletzt auf Grund der Befürchtungen vor sowjetischen Zugriffsversuchen, in ständiger Bewegung. Ein Großteil der Registraturen, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichten, wurde nach Großbritannien und in die USA verbracht. Nur das Schriftgut der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände verblieb im Document Center in Berlin. Es ist kaum mehr festzustellen, wie groß der Anteil amtlichen Schriftguts des ehemaligen Deutschen Reiches war, der sich 1948/49 in westalliiertem Gewahrsam befand. Eckerts Ausführungen erwecken jedoch den Eindruck, dass die amerikanische und britische Politik des "Archivschutzes" durchaus flächendeckend war.
Angesichts solch rigoroser Aktenbeschlagnahmungen durch die Briten und Amerikaner ließen westdeutsche Rückgabeforderungen nicht lange auf sich warten. Bezeichnenderweise preschte dabei jedoch nicht die erste deutsche Bundesregierung vor, sondern die Standesvertretungen zweier Berufsverbände. Bereits im Mai 1949 verabschiedete der Wiesbadener Archivtag eine Resolution, in der ein Friedensvertrag und die Rückgabe der deutschen Akten eingefordert wurden. Die deutschen Archivare entwickelten sich in den kommenden Jahren im "Kampf um die Akten" zu einer bedeutenden Lobby. Eckert lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich dabei in der Mehrzahl um Männer handelte, die ihre Karrieren dem NS-Regime zu verdanken hatten. So waren 80 Prozent der Archivare im höheren Dienst Mitglieder der NSDAP gewesen. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes war Selbstkritik ihre Sache nicht. Stattdessen setzten die Archivare alles daran, dem "Fegefeuer der Entbräunung" zu entkommen. Eine besonders dubiose Rolle spielte dabei Georg Winter, der erste Direktor des Bundesarchivs, der selbst nicht Parteimitglied gewesen war und vielen ehemaligen Kollegen einen Persilschein ausstellte. Winter war es auch, der die "Aktenentführungen" der Alliierten 1955 als "kulturwidriges Vorgehen" anprangerte. Gleichzeitig deckte er den Mantel des Schweigens über seine Tätigkeiten im Sonderstab Archive beim Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, die ihn während des Zweiten Weltkrieges ins Baltikum und in die Ukraine geführt hatten. Eckerts Ausführungen zeigen, wie wenig Anlass die deutschen Archivare zur Klage über die "Plünderung" von Archivgut durch die Alliierten hatten, waren sie vor 1945 in den vom NS-Regime besetzten Gebieten doch in derselben Angelegenheit tätig gewesen.
Die zweite bundesdeutsche Lobbyorganisation, die um eine Rückgabe der Akten kämpfte, war der Verband Deutscher Historiker. Das Denken der meisten deutschen Historiker wurzelte, wie Eckert zeigt, immer noch tief im Historismus des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt ihrer Argumentation stand die Ansicht, dass Ausländer nicht in der Lage seien, die deutschen Akten richtig zu interpretieren. Besonders Gerhard Ritter profilierte sich als Protagonist einer solchen, aus der heutigen Perspektive nur noch ignorant zu nennenden Position. Seine wissenschaftliche Publizistik, aber auch seine tagespolitischen Äußerungen waren voller nationalistischer Töne. Dabei ließ er freilich, wie Eckert konstatiert, auch keinen diplomatischen Fettnapf aus. Beispielsweise scheute sich Ritter nicht, anlässlich eines Vortrags in London im Oktober 1949 die britische Politik gegenüber den Widerständlern des 20. Juli 1944 zu kritisieren. Demgegenüber nehmen sich die Bemühungen des 1950 gegründeten Münchener Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), die Rückgabe der deutschen Akten zu beschleunigen, vergleichsweise moderat aus. Jedoch schadete sich das IfZ mit einer 1951 erfolgten Publikation von "Hitlers Tischgesprächen", für die ausgerechnet Gerhard Ritter verantwortlich zeichnete. Ritter hatte sich gar nicht erst der Mühe einer kritischen Edition unterzogen, sondern Hitlers Monologe unkommentiert stehen lassen. Das Buch wurde zum öffentlichen Skandal und führte dazu, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die NS-Vergangenheit führender IfZ-Mitarbeiter unter die Lupe nahm. Seither war der Einfluss des IfZ auf die Rückgabeverhandlungen gleich Null.
Ein Aide Mémoire des Bundeskanzleramtes vom 23. Februar 1950, eine Entschließung des Bundestages, die von einigen rechtsradikalen Abgeordneten initiiert worden war, und ein Schreiben Adenauers an die Alliierte Hohe Kommission vom 17. Juni 1950 markierten den Beginn des "Verhandlungsmarathons" um die Rückgabe der beschlagnahmten Akten. Detailliert arbeitet Eckert heraus, dass die Amerikaner prinzipiell eine größere Rückgabebereitschaft zeigten als die Briten. Durch das "Bissell-Sinclair-Abkommen" war man in dieser Frage allerdings auf eine gemeinsame Verhandlungsführung festgelegt. Die britischen Regierungsstellen waren in der Rückgabefrage jedoch tief gespalten. Hielten das Central Department und die britische Hohe Kommission eine behutsame Rückgabe für wünschenswert, votierte die Forschungsabteilung des Foreign Office zunächst einmal gegen ein solches Vorgehen. Als ein besonderer Hemmschuh erwies sich das Joint Consultative Committee, ein ressortübergreifender Ausschuss, der unter der Leitung des britischen Historikers John Wheeler-Bennett stand. Als ein schlagkräftiges Argument gegen eine vorzeitige Rückgabe der Akten erwiesen sich die Documents on German Foreign Policy, eine alliierte Edition der diplomatischen Akten des NS-Regimes, die schon 1946 unter Wheeler-Bennetts Hauptherausgeberschaft in Angriff genommen worden war. Dieses Projekt war als Reaktion auf die "Große Politik der europäischen Kabinette" zu verstehen, die das Auswärtige Amt seit den 1920er-Jahren publiziert hatte, um das Deutsche Reich von der Schuld am Ersten Weltkrieg rein zu waschen. Viele britische Historiker befürchteten ein ähnliches Szenario, wenn man den deutschen Kollegen die diplomatischen Akten vorzeitig überließ.
Letztlich konnten die britischen Bedenken die Rückgabe der Akten nur verzögern, nicht verhindern. Schon seit Anfang der 1950er-Jahre war es im Rahmen bilateraler Übereinkommen zwischen der amerikanischen und der bundesdeutschen Regierung bereits zu einigen ad-hoc-Rückgaben gekommen. Mit dem Notenaustausch vom 14. März 1956 wurde der Rückgabefahrplan schließlich kodifiziert. Seit dem 1. April 1957 standen die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn ausgewiesenen Wissenschaftlern zur Verfügung. Die Verhandlungen um die Rückgabe der militärischen Akten setzten am 13. Januar 1958 ein und kamen bald zu einem zügigen Abschluss, obwohl es in dieser Angelegenheit kein förmliches Abkommen gab. In den folgenden Jahren wurde jedenfalls ein Großteil der militärischen Akten restituiert. Ausdrücklich betont Eckert, dass die conditio sine qua non für alle Aktenrückgaben die Zusage einer uneingeschränkten Benutzbarkeit war, und zwar jenseits von allen Sperrfristen, die in der Regel dreißig Jahre betrugen. Gleichwohl fand das Auswärtige Amt oft Mittel und Wege, Benutzern aus den Ostblockstaaten Akten des Politischen Archivs vorzuenthalten, und setzte sich dabei ausdrücklich über die Position von Archivleiter Johannes Ulrich hinweg.
Eckert deutet den "Kampf um die Akten" prononciert als eine Auseinandersetzung um die historiografische Deutungsmacht. "Wer Quellen hat, kann Geschichte schreiben", lautet der prägnante erste Satz ihres Buches. Dies trifft zuvorderst auf die westdeutschen und die britischen Historiker zu, denen es um die Durchsetzung ihrer jeweiligen historiografischen Positionen ging. Auf der Ebene der Kabinettspolitik scheinen jedoch zwei andere Gesichtspunkte eine Rolle gespielt zu haben. Für die amerikanischen Regierungsstellen war das Ringen um eine Westbindung der Bundesrepublik Deutschland handlungsleitend, wohingegen die britische Seite eher eine (Wieder-)Erstarkung des deutschen Nationalismus und der apologetischen Nationalgeschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit befürchtete, für die Gerhard Ritter Pate stand. Die Regierung Adenauer wiederum sah den "Kampf um die Akten" als Bestandteil des Ringens um die staatliche Souveränität an.
En passant betont Eckert, dass die deutsche Seite zu keiner Zeit das Argument ins Feld führte, die Akten zur Strafverfolgung von NS-Verbrechern zu benötigen. In der Tat wäre es interessant gewesen, die Frage der justiziellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ausführlicher in den Blick zu nehmen und nach Zusammenhängen zur Archivpolitik der Westalliierten zu fragen. Vielleicht kommen auch die amerikanische und britische Perzeption der sowjetischen Politik und deren Archivpraxis in der SBZ etwas zu kurz, wenngleich eine systematische Analyse im Rahmen der vorliegenden Untersuchung natürlich nicht zu leisten war. Beide Kritikpunkte schmälern jedoch nicht das Verdienst der Autorin. Ihre Studie ist außergewöhnlich gut geschrieben und liest sich streckenweise wie ein spannender Kriminalroman. Eckert hat ein hervorragendes Buch geschrieben, das auch von Laien mit Genuss zu lesen ist. Historiker, die sich mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland befassen, werden an einer Lektüre ohnehin nicht vorbeikommen.
Astrid M. Eckert: Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg (= Transatlantische Historische Studien; Bd. 20), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 534 S., ISBN 978-3-515-08554-0, EUR 68,00
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