Kann man Scheidungsakten wie Literatur lesen? Sind die einstmals im Zuge von Trennung und Streit verbissen einander bekämpfenden Personen ebenso wie literarische "Figuren" (256) zu 'deuten', kann man ihre Beziehungen 'interpretieren'? Wenn man sie, wie Caroline Arnis Arbeit es vorführt, präzise einordnet in den Kontext von Fragen der Rechtsgeschichte und deren Kodifizierung, darf man dieses methodische Wagnis bejahen. Das Ergebnis jedenfalls ist eindrucksvoll, und es ist ein doppeltes: Zum einen ermöglicht es der historische Abstand zu den Dossiers zu zeigen, wie über Deutungspraxen selbst Beziehungspraxis hergestellt und gestaltet wird, wie sich die "Codes" (284) der Liebe im Zeitalter der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches beziehungsweise des Schweizer Zivilgesetzbuches formieren. Und es macht zum Zweiten deutlich, dass es - so verwickelt sich die Einzelbefunde in der genauen Rekonstruktion auch darstellen mögen - um 1900 zunächst einmal um die Etablierung eines bestimmten Ehemodells ging; und zwar "desjenigen Ehemodells", das gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den Prozess seiner "Deinstitutionalisierung" (47) einmündet. Wohl deshalb erscheinen die Befunde so aktuell. Wohl deshalb gewinnt man beim Lesen dieser Berner Dissertation den Eindruck: Bezüglich der Geschichte des Privaten hat die Zeit leicht eine kreisförmige Struktur.
Caroline Arnis Arbeit Entzweiungen setzt mit einer fulminanten Zitatenfolge ein: Sie lässt Bestimmungen des Ehebegriffs von Augustin über Fichte und Kant und Hedwig Dohm bis hin zu Theodor W. Adorno Revue passieren. Die Ehe an sich ist beschreibbar, und viele haben sie beschrieben: "Es gibt 'Phänomenologien' der Ehe, Theorien der Ehe, und es gibt die Ehekritik" (3). Alle bilden sie jeweils ein Konglomerat von beobachteten Wirklichkeiten und theoretischen Hoffnungen, sich bewegend zwischen Entwurf und Verwerfung. Erst in der Scheidung nimmt die Ehe die Gestalt jenes Rechtsinstituts an, das sie ist. In dieser Form offenbart sie das, was Arni - sich an ein Wort Georg Simmels haltend - eine "echte soziologische Tragik" nennt: den Umstand nämlich, dass "eine Vereinigung von zweien zwar nicht ihrem Leben nach, aber ihrem Tode nach von jedem ihrer Elemente für sich allein abhängt - denn zu ihrem Leben bedarf sie des zweiten, zu ihrem Tode aber nur des einen" (5). Diesem Umstand suchte das 19. Jahrhundert mit der Naturalisierung sozialer Geschlechterdifferenzen und -verhältnisse zu begegnen. Es zeugt um 1900, so Arni, vom hohen "politischen Durchsetzungsvermögen" und von der "Definitionsmacht der bürgerlichen Gesellschaftsvision", dass auf dieser Basis "keine anderen Modelle des Geschlechterverhältnisses konsensfähig waren als der Entwurf einer institutionell verfestigten hierarchischen und geschlechtsspezifisch arbeitsteiligen Ehe" (71). Zugespitzt ließe sich sogar sagen, fügt sie hinzu, diese politische Durchsetzungsmacht habe auf all die vielen Stimmen reagiert, die bereits am Beginn des Institutionalisierungsprozesses die Krisenphänomene thematisierten und die in den neu gefundenen rechtstheoretischen Kodifikationen neutralisiert wurden. Freilich erwies sich als Crux dabei zunächst die Konstruktion familialer Gemeinschaftlichkeit selbst. Sie machte nämlich zur Voraussetzung, dass der in ihr "verfestigte Entwurf weiblichen Seins" (38) die Frauen als einen von der Moderne gleichsam im naturalen Raum belassenen "Kitt" der Moderne dachte - oft ungeachtet der faktischen Notwendigkeit weiblicher Partizipation an den Modernisierungsprozessen. Überzeugend führt das Buch diese These am Beispiel des liberalen Schweizer Scheidungsrechts vor, das um 1900 eine gewisse europäische Ausnahmestellung innehatte, um sich anschließend speziell der Rechtssprechung des Amtsgerichts Bern zuzuwenden.
Im Staatsarchiv Bern hat Arni zweiunddreißig Laufmeter der Dokumentation von Ehekrisen der Jahrhundertwende bis zur Vorkriegszeit abgeschritten und aus der Fülle des Materials vier Fallbeispiele ausgewählt. Sie sind schichtenspezifisch geordnet - Bürgertum, Arbeiterfamilie, Mittelschicht, Intellektuelle - und setzen jeweils mit einem Prolog ein, der in die spezifische Besonderheit des Dossiers einführt. Strategien der Pathologisierung literarisieren im ersten Fall gleichsam die populärwissenschaftliche Diskussion und machen Krankheit zu einer Chiffre persönlichen Missbehagens wie des Leidens an einer von wirtschaftlichen Krisen geschüttelten Gesellschaft. Zum Idiom der Beziehungskrise wird in den Selbstaussagen der neue disziplinäre Aussagezusammenhang der Psychologie. Das richterliche Urteil hingegen setzt noch ganz fraglos beim Scheitern männlicher Autorität an der charakterlichen Unangepasstheit der Ehefrau an. Die "Sorge" erweist sich als das Beziehungsidiom des zweiten Fallbeispiels. Es arbeitet an einer von Gewalt geprägten Verbindung das "Geflecht von wechselseitigen materiellen Abhängigkeiten und emotionalen Beziehungen" (173) als Besonderheit heraus. Arbeits- und Liebesvermögen erscheinen hier untrennbar. Der Verweisungszusammenhang von Gefühl und Ökonomie weist auf einen Affekthaushalt hin, in dem ein vermindertes männliches berufliches Leistungsvermögen symbolischer Kastration gleichkommt. Der dritte Fall zentriert sich um den sattsam bekannten Begriff der Ehre und zeigt, wie der Ehrenhandel entlang der um 1900 so eigentümlichen Verknüpfung von Liebe und Geld sich sogleich in einen Tauschhandel verwandelt. Die "Liebe als Passion" und der "Reichtum als Grundlage eines repräsentativen Lebensstils" (257) bilden das Versprechen, dem die eigene Unerfüllbarkeit eingeschrieben ist. Am ertragreichsten erweist sich die Auswertung des vierten Scheidungsdossiers. Es führt das Beispiel einer - ökonomisch gescheiterten - weiblichen Subjektwerdung vor. Überzeugend zeigt dieses letzte Kapitel auf, wie das Denken des Privatverhältnisses anfangs statt auf die eheliche Bindung als Instituierung von Geschlechterdifferenz auf gesellschaftliche Verhältnisse hin appliziert wird; das heißt die Ehe wird als gleichsam utopische Vorwegnahme eines zu erwartenden Gesellschaftszustandes gedacht. Doch setzt sich noch im Modell der intellektuell-politischen Gefährtenschaft die Uminterpretation der familiären Sphäre zum "Hort der Regeneration und Rekreation" des Ehemannes wieder durch. Funktion und Rolle der Ehefrau werden auf einem "Terrain neu berechenbar" gemacht, das sich "mit der hegemonialen männlichen Identität" vereinbaren lässt (300). Dieser exemplarisch ausgewiesene Vorgang weist nicht nur auf einen Mangel an alternativen Lebensformen zur Familie hin. Er verweist auch auf einen internen Widerspruch zu vorausgeschickten Überlegungen. An diesem letzten Fall ist eben nicht der Umstand entscheidend, dass "ideologisch" (38) die Frauen um 1900 aus den Bildungsprozessen ausgeschlossen sind. Vielmehr ist es die "körperlich-somatische Abhängigkeit" (323) der Männer von der Ehe, die den Ausschlag gibt. Sie wird in der Schlussbetrachtung der Arbeit zu Recht fokussiert. Das Beziehungsidiom betrifft also nicht die Ideologie oder Utopie, sondern den Leib. Es betrifft das Verständnis des 'Selbst' als jenen vertrackten "Knotenpunkt, in dem das Soziale individuell wird" (325). Insofern geht die vorliegende Arbeit weit über das hinaus, was die Tristesse der Dinge genannt wird, die zu Ende gehen. Sie wirft Fragen auf: Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie wollen wir leben? Ist die Liebe veränderbar, oder ist sie einfach ein historisches Phänomen?
Caroline Arni: Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, XII + 415 S., ISBN 978-3-412-11703-0, EUR 39,90
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