Zu den ambitioniertesten Vorhaben des Programms der "Union der deutschen Akademien der Wissenschaften" zählt die Edition der Schriften und Briefe des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz. Die Anfänge dieses Unternehmens sind bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen; bislang liegen knapp 40 Bände der Ausgabe vor, die nach ihrem Abschluss mehr als einhundert Bände umfassen wird. Der Vergleich zwischen der Zahl der erschienenen und der noch ausstehenden Bände bei einer inzwischen gut einhundertjährigen Laufzeit des Vorhabens gab und gibt einer oberflächlich agierenden Polemik gegen die Langzeitprojekte der Akademien immer wieder Argumentationsmaterial. Es ist in erster Linie das Missverhältnis zwischen der schieren Größe der zu lösenden Aufgabe und dem dafür eingesetzten Personalaufwand, der ein rascheres Voranschreiten der Edition verhindert. Die historisch-kritische Publikation von fünfzehntausend Briefen und dreißigtausend Schriften (von Notizen bis zu umfangreichen Monografien) kann eben von einer kleinen Gruppe von Editoren, die niemals die Zahl von zwanzig überschritten hat (und zumeist weit darunter lag), nicht in einem sicher wünschenswerten kürzeren zeitlichen Rahmen bewerkstelligt werden.
Die Ausgabe ist in einer nicht unbedingt als glücklich zu bezeichnenden Weise in acht Reihen unterteilt worden, die (abgesehen von der bis heute nicht in den Gang gekommenen Reihe fünf) zur Zeit an vier verschiedenen Standorten vorangetrieben werden. Die vierte Reihe "Politische Schriften" war die einzige, die während der deutschen Teilung im Gebiet der DDR verblieb (Berlin) und hier mit ganz eigenen, politisch bedingten Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. In den Neunzigerjahren ist sie von der Berlin-Brandenburgischen Akademie übernommen worden und hat nun ihren Sitz in Potsdam und wird gegenwärtig von Hartmut Rudolph geleitet. Diese rein politisch bedingte Standortwahl trägt im Übrigen nicht zur Beschleunigung des Unternehmens bei, fehlen doch in der brandenburgischen Landeshauptstadt die über umfassende Altbestände verfügenden Bibliotheken, auf deren Existenz solche Editionen unabdingbar angewiesen sind. Umso erfreulicher ist es, dass nach Erscheinen des vierten Bandes 2001 drei Jahre später bereits der Band fünf vorgelegt werden konnte.
Der im vorliegenden Band erfasste Zeitraum erstreckt sich über die Jahre 1692-1694, in denen sich Leibniz, von einem Abstecher nach Holland abgesehen, fast ständig in Hannover und Wolfenbüttel aufhält. In politischer Hinsicht beschäftigen ihn in dieser Zeit das Ringen um die Durchsetzung der umstrittenen Kurwürde für das Haus Hannover und der schon seit 1688 tobende Reichskrieg gegen Frankreich. Letzterem galt unter anderem eine anonyme monografische Publikation ("Fas est ab hoste doceri", 1694) zur Reichsverteidigung (Stück 68 der Edition), die dank neuester Untersuchungen jetzt Leibniz zugeschrieben werden kann - sicher eine der interessantesten Entdeckungen der Leibniz-Forschung der letzten Jahre. Dass Leibniz Frankreich durch die Entwicklung einer auf Zuckerbasis betriebenen Branntweindestillation auch wirtschaftlich zu bekämpfen sucht, zählt dagegen mehr zu den skurrilen Einfällen des unermüdlichen Projektmachers. Nach wie vor beschäftigt ihn auch das Thema der interkonfessionellen Verhandlungen, das auch die kommenden Bände noch durchziehen wird. Die Übernahme der Leitung der Wolfenbütteler Bibliothek veranlasst Leibniz zur Abfassung mehrerer Entwürfe zur Ordnung von Bibliotheken, was immerhin zehn Stücke der Edition belegen.
Die Rezension einer Textausgabe hat sich jedoch hauptsächlich mit den angewandten Editionsmethoden zu beschäftigen. Der Spielraum, das ist vorweg zu sagen, für die einzelnen Bearbeiter der Leibniz-Edition ist allerdings sehr eng gesteckt, denn deren Regeln sind vor langen Jahrzehnten festgelegt worden, alle am Vorhaben Beteiligten müssen sich daran orientieren. Die folgenden, teilweise kritischen Anmerkungen haben daher nicht in erster Linie die konkreten Bandbearbeiter als Adressaten, sondern wollen einige die Gesamtausgabe berührende Probleme ansprechen. Dabei geht es nicht im Entferntesten, das sei doppelt unterstrichen, um eine Infragestellung der über alle Maßen verdienstvollen Leibniz-Edition.
Die Texte (insgesamt 88) sind in neun thematische Blöcke gegliedert worden, wobei das Rechtswesen, das Haus Braunschweig-Lüneburg und die Kirchenpolitik die meisten Stücke umfassen. Eine allgemeine Einleitung (im vorliegenden Band 37 Seiten) informiert über die Entstehungsgeschichte wenigstens der größeren Stücke des Bandes. Sie beruht in ihren Ausführungen allein auf der Auswertung der im Textkorpus gebotenen Quellen. Eine Einbettung der Darstellung in die jeweilige Forschungsdiskussion erfolgt nicht; es fehlt an jeglichen Literaturhinweisen. Das gilt in einem abgeschwächten Sinne im Übrigen auch für die Textkommentierung, auf die noch einzugehen sein wird. Sub specie aeternitatis mag der Verzicht auf solches wohl als zeitbedingt und flüchtig empfundene Beiwerk als gleichgültig erscheinen, jedoch ist die Verfallszeit der Literatur zu den hier traktierten Themenfeldern sehr gestreckt, sodass der Leser der gegenwärtigen Generation durchaus dankbar für eine solche Hilfestellung wäre. Die einzelnen Stücke besitzen ihre jeweils eigenen ausführlichen Einführungen, die sich auf die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte konzentrieren. Diese Darlegungen sind, wie bei der Leibniz-Ausgabe üblich, von vorbildhafter Gründlichkeit und Gediegenheit; besser kann man es nicht machen. Die Texte selbst dürften, soweit sich das ohne Kenntnis der Vorlagen sagen lässt, ebenfalls dem höchsten Standard moderner Editionen Genüge tun. Das verbürgen im Übrigen schon die Namen der Bearbeiter, die allesamt in ihrem Metier ausgewiesen sind.
Problematisch dagegen ist die Kommentierung der Texte. Diese Arbeit erfordert erfahrungsgemäß immer den größten Arbeitsaufwand. Es gilt, sich hier zwischen der Skylla eines zum Selbstzweck werdenden, im Umfang die Texte an den Rand drückenden Kommentarwerkes und der Charybdis einer den Leser sich letztendlich selbst überlassenden Sammlung von Zufallserläuterungen hindurchzuwinden. Es muss das erläutert werden, was zum Verständnis des Textes notwendig ist, nicht mehr und nicht weniger. Eine so enorm dimensionierte Ausgabe wie die Leibniz-Edition wird sich in der Kommentierung unbedingt Zügel anlegen müssen, will sie angesichts der bestehenden Rahmenbedingungen je einen Abschluss erreichen. Blickt man nun in den vorliegenden Band, der hier (wie gesagt) repräsentativ für die gesamte Ausgabe gesehen wird, so scheint es dem Rezensenten, dass dennoch der an sich gebotenen Zurückhaltung ohne Not mitunter zu viel gehuldigt worden ist. Im Rahmen einer Besprechung können zum Beleg nur wenige Beispiele genannt werden. Eine der wichtigsten Schriften des vorliegenden Bandes bildet die "Praefatio Codicis juris gentium diplomatici" (Stück 7). In seinem "Codex" hat Leibniz völkerrechtliche Verträge der vorangegangenen Jahrhunderte publiziert. In der Praefatio gibt er über seine Intentionen und über die seinem Werk zugemessene Bedeutung Auskunft. Der Text dieses Vorwortes besteht zu einem guten Teil aus der erklärenden Aufzählung der im Band abgedruckten Dokumente. Der Kommentar begnügt sich in der Regel mit dem Hinweis auf die Seiten im "Codex", auf denen sich der besagte Vertrag findet; mitunter fehlt jede Angabe. Über den Inhalt wird selten etwas mitgeteilt; man ist auf Leibniz' Mitteilungen und auf seine eigenen Geschichtskenntnisse angewiesen, oder man muss sich eben den "Codex" daneben legen. Wer weiß zum Beispiel, dass es sich bei einer Festlegung über die Einrichtung des Reichsvikariats von 1401 um einen Erlass König Ruprechts zu Gunsten seines Sohnes handelt (68)? Wer weiß, dass es sich bei dem Vertrag von Etaples (ad Stapulas) 1492 um ein Abkommen zwischen Frankreich und England handelt (66)? Es ließe sich hier eine lange Aufzählung anschließen. Was nicht selten fehlt (diese Feststellung gilt für alle Texte des Bandes), das sind meines Erachtens notwendige Sacherläuterungen. Um was es sich, wieder als Beispiel, bei dem Peterspfennig handelt, ist vielleicht dem Nichtmediävisten nicht recht bekannt; gleiches gilt für die "Mathildischen Güter" (66). Es wird nicht deutlich, warum nicht mit kurzen Sätzen die Verträge inhaltlich beschrieben werden. Der Arbeits- und Platzaufwand wäre relativ gering gewesen. Man muss es ja nicht so handhaben, wie es in der gleichzeitig vorgelegten Textedition von Leibniz-Schriften zur Geschichte (Hannover 2004), die der Rezensent hinzugezogen hat, geschehen ist. Dort ist die "Praefatio" ebenfalls enthalten und wird nach dem Ideal der Vollständigkeit in extenso erklärt, was aber nur in einer überschaubaren Auswahledition arbeitsökonomisch möglich ist. Was allerdings angestrebt werden sollte, ist die Möglichkeit, eine Textausgabe benutzen zu können, ohne unabdingbar inmitten einer großen Bibliothek zu sitzen, deren Bücher es ständig zurate zu ziehen gilt.
Ein anders gelagertes Beispiel der unbefriedigenden Kommentierung bietet der Text 21, in dem Leibniz sich mit einer nur handschriftlich vorliegenden Arbeit (Hauptstaatsarchiv Hannover) zur Problematik der für Hannover angestrebten Kurwürde befasst. Leibniz nimmt in dem 14-seitigen Gutachten ständig auf diesen so genannten "Bericht" Bezug. Der Apparat verweist zwar regelmäßig auf die entsprechende Blattangabe in der Handschrift; über den Inhalt wird jedoch nichts mitgeteilt. Käme ein Leser auf die (an sich nicht fern liegende) Idee, sich ernsthaft mit dem vorliegenden Text zu beschäftigen, so bliebe ihm nichts anderes übrig, als mit dem Buch in der Hand nach Hannover zu fahren, um sich dort zur Lektüre des Berichts in das Archiv zu setzen; sonst kann er manche der Ausführungen von Leibniz nicht wirklich verstehen.
Ein letztes Problem, das hier angesprochen werden soll, bilden die Literaturnachweise. Bei der Leibnizausgabe gilt die Regel, ausschließlich zeitgenössische Ausgaben zu nennen. Das versteht sich von selbst bei Publikationen, die nur zur Zeit Leibniz' erschienen sind, wird aber zu einer merkwürdigen Praxis, wenn Texte zitiert oder erwähnt werden, die in modernen zuverlässigen Ausgaben vorliegen, die der Leser rasch zur Hand nehmen könnte. Stellennachweise (72) bei Widukind von Corvey und Thietmar von Merseburg nach Ausgaben der Jahre 1621 (an anderer Stelle 1688) beziehungsweise 1667 (an anderer Stelle 1580) nützen dem Leser kaum. So wird zum Beispiel (64) auf Pufendorfs berühmtes Werk "De jure naturae et gentium" in der Erstauflage (1672) verwiesen. Das ist, nebenbei gesagt, eher eine Scheingenauigkeit, denn Leibniz kann auch eine spätere Ausgabe benutzt haben. Vor allem aber liegt seit 1998 eine vorzügliche moderne Edition auf dem Tisch. Warum wird nicht diese genannt? Zu solchen Zwecken werden diese Editionen unter anderem schließlich erstellt, nicht zuletzt eben auch die der Schriften Leibniz'. Stattdessen wird das Bild vermittelt, der Leser würde sozusagen inmitten der Bibliothek Leibniz' sitzen. Die Leibniz-Edition, das drängt sich als Gesamtbild dem Betrachter auf, soll als zeitloses Monument erscheinen. Elemente, die der Vergänglichkeit unterliegen, haften ihr nicht an.
Zahlreiche Register, unter denen das sorgsame Sachregister besonders hervorgehoben werden muss, beschließen den Band. Es ist zu hoffen, dass die Edition unbehindert von manchen gegenwärtigen absurden wissenschaftspolitischen Diskussionen in den kommenden Jahren voranschreiten wird. Die Wissenschaft benötigt, das sei bei aller eben geäußerten Kritik mit allem Nachdruck betont, diese Edition!
Gottfried Wilhelm Leibniz: Politische Schriften 1692-1694. Hrsg. v. d. Leibniz-Editionsstelle Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (= Gottfried Wilhelm Leibniz. Sämtliche Schriften und Briefe, IV. Reihe: Politische Schriften; Bd. 5), Berlin: Akademie Verlag 2004, LVI + 779 S., ISBN 978-3-05-004034-9, EUR 258,00
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