Eines der dringlichsten Desiderate der neueren historischen Reiseforschung betrifft die Ausweitung ihrer Quellenbasis. Nicht, dass es an einschlägigen Texten mangelte: Allein für den deutschen Sprachraum wurden bisher über 12.000 zeitgenössisch gedruckte Titel im Zeitraum 1700-1810 nachgewiesen. Trotz dieser beeindruckenden Fülle ist das soziale Spektrum, aus dem sich die Autoren rekrutieren, relativ eng bemessen: Es überwiegen Angehörige der "gebildeten Stände", vielfach mit ausgeprägten publizistischen oder literarischen Ambitionen.
Die schriftlichen Zeugnisse zur Reisepraxis anderer sozialer und professioneller Gruppen sind ungleich schwieriger zu fassen. Dies gilt auch für die Angehörigen künstlerischer Berufe, für die sich im Laufe der Frühen Neuzeit je nach Betätigungsfeld und Karrierestadium feste Mobilitätsmuster ausbildeten. Hier überwog das Interesse, die Weitergabe professionell relevanter Beobachtungen und Erfahrungen jederzeit kontrollieren zu können. Daher liegt der überwiegende Teil der Reiseaufzeichnungen von Malern, Bildhauern und Architekten, bis heute archivalisch nur unzureichend erschlossen, in Form von handschriftlichen Reisejournalen, Briefen und Skizzenbüchern vor.
Im Zuge eines verstärkten Interesses an den vielfältigen Formen des europäischen Kulturtransfers und der historischen Reisekultur ist in jüngster Zeit wieder eine erfreuliche Tendenz zu verzeichnen, solche Manuskripte durch kritische Editionen allgemein zugänglich zu machen. [1] Dies ist umso mehr zu begrüßen, als die Erschließung handschriftlicher Aufzeichnungen durch Transkription und Kommentar ein langwieriges Vorhaben darstellt, das die üblichen Förderungszeiträume von Forschungsprojekten häufig weit überschreitet und zudem eine gewisse Unterordnung des Herausgebers gegenüber dem historischen Autor und seinem Text verlangt.
Andreas Bräm hat editorische Dienste an den Reiseaufzeichnungen eines Architekten geleistet, der heute allenfalls Spezialisten der französischen Architekturgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts geläufig sein dürfte. Die Erinnerung an Leben und Werk von Jacques-Denis Antoine (1733-1801) knüpft sich heute beinahe ausschließlich an sein Hauptwerk, das monumentale Hôtel de la Monnaie, 1768-1775 an städtebaulich prominenter Stelle am Quai de Conti im Herzen von Paris errichtet. Den Zeitgenossen galt Antoine in der Nachfolge Jacques-Germain Soufflots als Exponent eines Klassizismus, der die französische Architektur wieder zu Prinzipien und Formensprache der antiken Baukunst zurückgeführt habe. Vergleichsweise spät, bereits im 44. Lebensjahr stehend, trat Antoine im November 1777 eine Reise nach Italien an. Erst im Jahr zuvor war er in die Académie royale d'architecture aufgenommen worden. Als Sohn eines Kunsttischlers hatte sich Antoine nach einer Maurerlehre zum Bauunternehmer hochgearbeitet. Im Gegensatz zu den Eleven der Architekturakademie konnte der selfmade-man erst ans Reisen denken, als seine berufliche Laufbahn gesichert war. Nicht zuletzt dieser Werdegang, der sich von den Karrieren seiner Altersgenossen Charles de Wailly (1730-1798) und Claude-Nicolas Ledoux (1736-1806) markant unterscheidet, macht die Reiseaufzeichnungen Antoines für eine soziologisch sensibilisierte Architekturgeschichte interessant.
Kernstück der Edition bildet das in der Bibliothek des Institut de France in Paris bewahrte Reisejournal Antoines, das mit der Abreise aus Lyon am 4. November 1777 einsetzt, über die Hauptstationen der Hinreise (Turin, Mailand, Mantua, Vicenza, Padua, Venedig, Ancona) unterrichtet und mit dem Bericht über den Aufenthalt in Rom am 9. Januar 1778 unvermittelt abbricht. Die Transkription des 71 Blatt umfassenden "carnet de voyage" wird ergänzt durch einen Stellenkommentar des Herausgebers, der über die von Antoine erwähnten Objekte und Personen informiert und auf etwaige sachliche Irrtümer des Autors hinweist. Der historische und biografische Kontext dieser Reiseaufzeichnungen gewinnt Kontur durch eine Einführung zu Antoines Leben und Werk (11-22), eine Übersicht zu Italienreisen vornehmlich französischer Architekten im 18. Jahrhundert (mit wichtigen Hinweisen auf unpublizierte Reisequellen; 23-46) und eine abschließende Charakterisierung des Reisejournals und seiner Berichtsschwerpunkte (137-155). Der Anhang (159-197) bietet unter anderem eine tabellarische Aufstellung der von Antoine besuchten Städte und erwähnten Objekte sowie Quellen zum Schaffen des Architekten, der im weiteren Verlauf seiner Karriere auch an der Planung und Realisierung urbanistischer Projekte im europäischen Ausland, etwa in Bern und Karlsruhe, beteiligt war.
Nicht nur die kunsthistorische Forschung hat die vermeintlich strukturelle Koppelung zwischen Reisen und Beschreiben zumal im Hinblick auf die Italienerfahrung im 18. Jahrhundert so verinnerlicht, dass individuelle Reise- und Schreibmotive kaum mehr hinreichend präzise konturiert werden. Leider ist auch Bräms Aufriss der kulturellen Praxis der Italienreise, erwartungsgemäß, aber irreführend in Goethes "Italienischer Reise" gipfelnd, eher geeignet, die je spezifischen Reise- und Textpraktiken zu Gunsten einer für selbstverständlich genommenen literarischen Tradition einzuebnen.
Tatsächlich ist die Frage, warum und für wen Antoine sein Reisejournal geführt hat, alles andere als trivial. Bräm liefert zu ihrer Beantwortung zwar Hinweise, doch bleibt die typologische Einordnung der Quelle eigentümlich unscharf. Obschon der Architekt vom Oberintendanten der königlichen Bauten eine formelle Beurlaubung erwirken musste, war er im Unterschied zu den Stipendiaten des Prix de Rome gegenüber seinem Dienstherren nicht rechenschaftspflichtig. Antoine reiste und schrieb nicht, wie viele seiner deutschen Berufskollegen von Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff bis Simon Louis du Ry, in der Funktion eines fürstlichen Begleiters und Kunstberaters. [2] Er war auf eigene Kosten und daher mit merklichem Zeitdruck unterwegs, was in seinen Aufzeichnungen mehr als einmal thematisiert wird. Das Journal ist aber auch etwas anderes als das Notiz- und Merkbuch eines praxisorientierten Architekten. Der Text basiert vielmehr auf Reisebriefen, die im Stile der "lettres familières" an eine weibliche Adressatin gerichtet waren (47). Ob fiktiv oder real, diese Adressierung an einen interessierten Laien hatte entscheidende Konsequenzen für die Darstellungsweise und -inhalte des Briefjournals. Denn damit wurden der Erörterung fachspezifisch-architektonischer Sachverhalte von vornherein Grenzen gezogen. Der Autor will durchaus über Baukunst berichten, doch auf unterhaltende Weise und ohne die übrigen sozialen und kulturellen Erfahrungsdimensionen der Reise zu vernachlässigen.
Dieser Strategie der Entlastung des Texts von fachspezifischen Erläuterungen entspricht die Tatsache, dass Antoine seine Reise auch zeichnerisch dokumentiert hat, indem er Bauten in Grund- und Aufrissskizzen festhielt. Die Skizzen werden im Journal zwar erwähnt, haben sich aber bisher nicht nachweisen lassen. Diese parallele Dokumentationspraxis scheint für die Rekonstruktion spezifischer Interessenlagen und Relevanzkriterien des reisenden Architekten aufschlussreicher zu sein als der häufig formelhafte Journaltext. Bezeichnenderweise waren es vor allem öffentliche Nutzbauten wie das Lazarett in Mailand oder die Stadttore Michele Sanmichelis in Verona, die Antoine in eigenen Plänen festhielt (64, 70). Dieser Primat des Plans wird auch in dem Umstand deutlich, dass sich Antoine in Vicenza sofort zur Subskription von Ottavio Bertotti-Scamozzis illustriertem Palladiowerk (1776-1783) entschloss, von dessen Entstehen der Baumeister bis dahin offenbar nichts gewusst hat. Sowohl die Genauigkeit der darin enthaltenen Pläne, als auch die französischen Begleittexte (des Öfteren bedauert Antoine, in Italien zu reisen ohne die Landessprache zu beherrschen), bewogen den Architekten zu dieser seiner wohl kostspieligsten Reiseerwerbung (73).
Während diese sachbezogenen Dimensionen der Reiseerfahrung auch dank des präzisen Stellenkommentars des Herausgebers gut erschlossen werden, bietet die Edition kaum Hilfsmittel, das soziale Bezugsspektrum der Reise genauer zu fassen. Bezeichnenderweise fehlt ein Personenregister. Dabei enthält das Journal genügend Hinweise darauf, dass die Reise auch (und vielleicht sogar vorrangig) der sozialen Statusdemonstration des aus bescheidenen Verhältnissen aufgestiegenen Architekten diente. So berichtet Antoine mit erkennbarer Genugtuung über seinen Umgang mit (frankophonen) italienischen Adeligen und Kaufherren. Die editorische Vernachlässigung dieses Aspekts hat verhindert, dass der Herausgeber auf komplementäre Quellenüberlieferungen aufmerksam geworden ist. Aufgrund des ausgeprägt kollektiven und kosmopolitischen Charakters der Reisekultur des 18. Jahrhunderts ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Reise einer Person in den Aufzeichnungen von zeitweiligen Begleitern und Bekanntschaften gespiegelt wird, stets gegeben.
Ein Beispiel mag illustrieren, warum die Reiseforschung nicht hinter die Internationalität ihrer historischen Akteure und Quellen zurückfallen sollte: Bei dem holländischen "Baron d'Hornu", mit dem sich Antoine auf dem Weg nach und während des Aufenthalts in Rom zu einer temporären Reisegemeinschaft zusammengeschlossen hat (99, 101, 105, 109), dürfte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den niederländischen Freiherrn Pieter Nicolaas van Hoorn (1743-1809) handeln. Die Reisejournale des kunstsinnigen Barons, der zeitgleich mit Antoine Italien bereiste und sich 1797 in Paris niederließ, bewahrt die Koninklijke Bibliotheek in Den Haag, wie einem verdienstvollen Inventar von handschriftlichen Reiseberichten in niederländischem Archiv- und Bibliotheksbesitz zu entnehmen ist. [3] Ob diese Quellen zusätzliche Informationen über Antoines Italienfahrt enthalten, die durch sein eigenes Journalfragment nur unvollständig dokumentiert ist, kann nur eine Prüfung der bisher unpublizierten Reisetagebücher van Hoorns ergeben.
Dieser Hinweis unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Editionen von der Art, wie sie Andreas Bräm für das Reisejournal Jacques-Denis Antoines vorgelegt hat. Die Rekonstruktion historischer Reisepraktiken und ihrer kulturellen Folgewirkungen ist gerade auf Zeugnisse von Reisenden ohne literarische und publizistische Interessen angewiesen. Texte wie Antoines Journalfragment bewegen sich gleichsam auf jener diskursiven Normalhöhe, die wir für die Masse der Italienreisenden im 18. Jahrhundert annehmen dürfen. Die wertneutrale Bestimmung von Durchschnittlichkeit ist auch eine historische Erkenntnisgröße.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt: Michael Bollé / Karl-Robert Schütze (Hg.): Heinrich Gentz, Reise nach Rom und Sizilien 1790-1795. Aufzeichnungen und Skizzen eines Berliner Architekten, Berlin 2004.
[2] Ralf-Torsten Speler (Hg.): Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, Kunsthistorisches Journal einer fürstlichen Bildungsreise nach Italien 1765/66, München / Berlin 2001; vgl. dazu die Rezension von Christoph Frank in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 11, URL: http://www.sehepunkte.de/2003/11/4265.html.
[3] Ruud Lindeman / Yvonne Scherf / Rudolf Dekker: Reisverslagen van Noord-Nederlanders uit de zestiende tot begin negentiende eeuw. Een chronologisch lijst, Rotterdam 1994, Nr. 258. Siehe auch URL: http://www.egodocument.net/ZREISDEF.htm.
Andreas Bräm: Jacques-Denis Antoine - Reisetagebuch. Ein französischer Architekt auf Italienreise (1777-1778). Kritische Edition des Reisetagebuches mit einer Einführung ins architektonische Werk (= Neue Berner Schriften zur Kunst; Bd. 7), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 196 S., 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-03910-402-4, EUR 37,20
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