Die kanonische Stilgeschichte mit dem Ideal des evolutionären Fortschritts hat sich das 19. Jahrhundert im schnittigen Verlauf zurecht gelegt, vom Klassizismus über (Spät-)Romantik und Realismus zu Manet und zum Impressionismus; mit den Neoimpressionisten sowie den "Vätern der Moderne" (van Gogh, Gauguin und Cézanne) beginnt diesem Stemma zufolge die sich vom Sujet lösende Bildautonomie, die zur abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts weiterführe.
Wer nicht in dieses Konstrukt passt, irritiert: die Deutschrömer beispielsweise, jene unterkühlten Spätromantiker mit klassischer Attitüde, oder die englischen Präraffaeliten, die auf eigenartigen Bahnen von der Romantik aus dem Jugendstil zusteuerten. Die unzähligen "Kleinmeister", die treuherzigen Landschaftsmaler und Sittenschilderer verbannt man ebenso wie die Salonmaler mit ihren Riesenleinwänden gerne ins Souterrain der Kunstgeschichtsschreibung. Ein paar Repräsentanten aus der Schar derer, die nicht so recht in den Mainstream passen wollen, kommen mit einem blauen Auge davon und dürfen die "Niederungen" verlassen - darunter, wenn auch mit knapper Zielankunft, der Italiener Giovanni Segantini (1858-1899), den man seiner malerischen Faktur nach zum Divisionismus, seiner Thematik nach meist zum Symbolismus zählt.
Umso willkommener ist jede neue Publikation, welche die wissenschaftliche Isolation aufbricht, in die Segantini geraten ist, auch wenn er sich gelegentlich als Erbe der großen Landschaftstradition unter den "Wegbereitern der Moderne" zitiert findet. So wichtige Fragen wie die nach Segantinis Inspiration durch Jean-François Millet und die Präraffaeliten oder umgekehrt nach seinem Einfluss auf Gustav Klimt und Egon Schiele, ferner auf den Futurismus, sind trotz mancher Ansätze Desiderate der Forschung geblieben. Dankenswerterweise initiierte das 1999 neu eröffnete Segantini Museum in St. Moritz ab dem Spätsommer 2001 eine Reihe von viel versprechenden Vorträgen (Jörg Traeger, Johannes Stückelberger, Daniela Hardmeier), die ein Jahr später ihre Fortsetzung (Juerg Albrecht, Matthias Frehner, Peter Vignau-Wilberg) und 2003 ihren Abschluss fanden (Tina Grütter, Beat Stutzer). Mit dem Abdruck von sieben gründlich überarbeiteten Referaten (das von Vignau-Wilberg fehlt) sucht der hier rezensierte Sammelband einen gewichtigen Beitrag zur Neuinterpretation Segantinis zu leisten.
Jedes Kapitel behandelt ein Hauptwerk des Malers aus dem Besitz des Museums in St. Moritz. Gerade aus monografischen Erörterungen, die Einzelwerke eines Künstlers in genuine Traditionen und ihren zeitgeschichtlichen Kontext einbetten, hat die Kunstwissenschaft einige ihrer intensivsten Ergebnisse bezogen. Ein derart positives Fazit ist allerdings nach der Lektüre der vorliegenden Buchbeiträge nicht immer möglich.
Die Aufsätze beginnen mit Traegers Analyse des Bildes "Ave Maria bei der Überfahrt", genauer gesagt, der zweiten Fassung dieses Motivs (1886). Überzeugend ordnet der Autor das Sujet in die Tradition des Andachtsbildes ein und diskutiert es als Symbol des göttlichen Transitus "im offenen Horizont eines säkularisierten Universums" (13). Der instruktive Diskurs wird meines Erachtens jedoch durch die vielen metaphorischen Bezugsebenen allzu sehr überfrachtet, die das Spezifikum Segantinischer Kunst eher verdecken als freilegen. Dennoch zählt Traegers Aufsatz zu den wichtigsten.
Segantinis "individueller Mythologie" geht Frehner anhand des Mutter-Kind-Themas nach, das sich paradigmatisch in der Zeichnung "Der Engel des Lebens" 1892 niederschlug. In dem Kapitel macht sich stellenweise störend bemerkbar, was vor vielen sonstigen Passagen dieses Buches auch zu konstatieren ist: nämlich die von der semantischen Offenheit des Symbolismus-Begriffes affizierte Tendenz zu enorm "wagemutigen" Interpretationen. Etwa, um nur ein Beispiel zu bringen, wenn Frehner die in Segantinis wohl berühmtestem Gemälde "Die bösen Mütter" (1894; Wien, Österreichische Galerie) im dürren Baum gefangene Frau mit einer Mater dolorosa vergleicht, was im weitesten Sinne noch angehen mag, dann aber fortfährt, das "Köpfchen des Säuglings entspräche [...] dem der Madonna ins Herz gestossenen Pfeil" (109).
Besonders fragwürdig scheint mir der durchaus fundiert beginnende Beitrag von Tina Grütter zu Segantinis Bild "La Morte" (1886-99). Die Interpretation häuft zuletzt Todessymbole aneinander und bemüht bedenkenlos auch solche ur- und frühgeschichtlicher Zeit, um eine - zugegeben - markante und auffallende Wolkenformation des Bildes als "plazentaartiges" (140) Gebilde sowie im gleichen Atemzug als Ballast eines archetypischen Wasser-, eines Totenvogels, mithin als Amalgam von Tod und Leben (141) auszuweisen. Mit den aus dem Schnee ragenden Zaunpfosten werden "Bilderstöcke" eines Kreuzweges konnotiert (143) - obwohl sie keineswegs die kanonische Zahl von 14 Stationen einhalten. Der Leichnam des heiligen Markus in Tintorettos Gemälde (1562-66; Mailand, Pinacoteca di Brera) begegnet als Vergleichsmoment für die "Perspektivik" besagter Wolke (!); das Gesicht Segantinis könne man angeblich in der "Physiognomie" eines Berges entdecken; Charon führe einen von Schatten illusionierten Leichenzug an usw.
Die unvoreingenommene Betrachtung des Wolkengebildes, sei es vor dem Original, sei es vor einer größeren und qualitätvolleren Abbildung, tut sich, vorsichtig formuliert, schwer mit solchen projizierten Assoziationen! Das Gemälde entwirft bekanntlich den rechten Teil jenes Alpentriptychons, das Segantini für die Pariser Weltausstellung 1900 als gewaltiges Panorama (20 m hoch, 220 m lang!) des Engadin geplant hatte (Stückelberger geht in seinem Beitrag zum 1891 vollendeten Gemälde "Mittag in den Alpen" ausführlicher darauf ein). Am 14. Oktober 1897 warb der Künstler dafür in einer Rede, in der er neben der ernsten und erhabenen Poesie der Konzeption die vollkommene Illusion und topografische Präzision hervorhebt. [1] Er unterstellt das Mittelbild dem topischen Motto "Natur" oder "Sein", von besonders enigmatischen Inhalten erfährt man indes nichts, wohl aber vom erwünschten Einbau einer Windmaschine - Vorwegnahme des "Erlebniskinos"!
Die Publikation des Segantini Museums, deren restliche Beiträge sich wieder solider darstellen, ist zweifellos verdienstvoll, da sie hoffentlich neues Interesse auf den "Alpenmaler" lenkt (allerdings hätte man sich eine bessere Bildqualität gewünscht - die Vergleichsabbildungen sind oft nicht mehr als briefmarkengroß). Doch das Unternehmen bleibt problematisch angesichts einer Reihe von Mystifikationen, die faszinierend klingen, aber die Rezeption in fatale Bahnen lenken könnten. Man wird sich wohl eher an die von Frehner auf Seite 103 vehement abgelehnte Aussage Oskar Bätschmanns halten müssen, um Segantini gerecht zu werden: "Der zwiespältige Eindruck von Segantinis Malerei scheint mir durch die Mischung von wissenschaftlicher Farbtheorie, Sentimentalität und moralisierender Bedeutung bewirkt zu sein." [2]
Anmerkungen:
[1] Dazu Ausstellungskatalog "Giovanni Segantinis Panorama und andere Engadiner Panoramen", hg. vom Segantini Museum St. Moritz und Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck, 1991, 37 ff.
[2] Vgl. Oskar Bätschmann: Malerei der Neuzeit (= Ars Helvetica VI), Disentis 1989, 206.
Beat Stutzer (Hg.): Blicke ins Licht : neue Betrachtungen zum Werk von Giovanni Segantini, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2004, 160 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-85881-159-2, EUR 30,00
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