Der Herausgeber des Sammelbandes plädiert in seiner knappen Einleitung für eine "Umweltgeschichte in der Erweiterung" (1), die der Geschichtswissenschaft eine neue Dimension hinzufügt, anstatt sich als eigenständige Disziplin mit einem methodischen und thematischen Kernbestand zu versuchen. Uekötter führt die Geschlechtergeschichte als Vorbild für die Umweltgeschichte an, die es geschafft hat, Geschlecht als fundamentale Kategorie zu etablieren. Dieser Vergleich zeigt, dass die Umweltgeschichte noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen hat. Noch bezieht nur ein kleiner Teil der historischen Forschung die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt mit ein. Abgesehen von den forschungspolitischen Implikationen von Uekötters Forderung nimmt sie zunächst dem Rezensenten einen möglichen Kritikpunkt zur augenscheinlichen Heterogenität der acht Beiträge des Sammelbandes.
Ein erstaunlicher Spagat gelingt Martin Knoll im ersten Aufsatz des Bandes. Auf Basis seiner Forschungen zur höfischen Jagdkultur Bayerns im Ancien Régime kann er eine Reihe disparater Stränge der Umweltgeschichte zusammenführen und neue Forschungsansätze aufzeigen. [1] Grundlage ist ein sozio-ökologisches Modell, dass neben der sozialen Schichtung der Jagdbeteiligten die unterschiedlichen Jagdpraktiken und Kulturlandschaftsformen berücksichtigt, die als Faktoren in dieser komplexen Mensch-Natur-Beziehung wirken. Daraus leitet Knoll eine Reihe von umwelthistorisch fruchtbaren Forschungsfeldern ab: Er fragt nach dem Einfluss der Jagdpraktiken auf die naturale Umwelt, wobei er u. a. die Möglichkeit der Rekonstruktion von Wildtierpopulationen und, aus dem Blickwinkel ökologischer Tragfähigkeit, den Materialdurchsatz, beispielsweise bei der Umzäunung riesiger Jagdparks, diskutiert. Ohne einen genauen Blick auf die kulturelle und politische Bedeutung der Jagd sind zudem die gewaltigen Ausmaße nicht zu verstehen, die dieses Spektakel im 18. Jahrhundert annahm. Für das Phänomen der Wilderei schlägt Knoll den Begriff der "environmental banditry" [2] vor, und auch in der viel diskutierten Beziehung des vormodernen Menschen zu Tieren zeigt sich die Jagd als viel versprechendes Forschungsobjekt.
Carol McLennan untersucht die Auswirkungen der Rohrzuckerproduktion auf das Ökosystem der Inselgruppe Hawaii. Ihr Hauptinteresse liegt dabei auf den Wechselwirkungen zwischen dieser Form industrieller Landwirtschaft und den natürlichen Ressourcen, die für den Produktionsprozess unabdingbar sind. Die Transformation der bis dahin durch die kleinräumige Landwirtschaft der polynesischen Bevölkerung geprägten Umwelt in eine vollständig industrialisierte Landschaft fand zwischen 1850 und 1920 statt, als Hawaii zu einem der weltweit wichtigsten Zuckerproduzenten aufstieg. McLennan schreibt eine Geschichte des geschickten Einsatzes von Geschäftsstrategien und technologischen Innovationen, des Wechselspiels von industrieller Ressourcennutzung und -bewahrung, aber auch der skrupellosen Einflussnahme machtvoller Kapitalinteressen auf die Politik. Interessen, Strategien und Einflussmöglichkeiten der lokalen Bevölkerung treten kaum in Erscheinung.
Karen Oslund liefert ein überzeugendes Plädoyer für eine komplexe, facettenreiche Geschichte der Beziehung zwischen Mensch und Wal. Sie gibt einen kompakten Überblick über die Geschichte dieser Beziehung und legt dabei den Schwerpunkt auf die Konflikte um den Walfang seit den 1970ern, die in der Öffentlichkeit und vor dem Forum der Internationalen Walfangkommission ausgetragen wurden. Der Essay zeichnet ein multiperspektivisches Bild der Institutionalisierung von Walfangregularien und den dahinter stehenden Interessen; er zeigt sich aber vor allem sensibel für den kulturellen Gehalt, den Wale für einzelne lokale Bevölkerungen seit Jahrhunderten hatten, für die nationalpolitische Aufladung des Walfangs in etlichen 'Walfangnationen' seit dem 19. Jahrhundert und schließlich für die symbolischen Zuschreibungen durch die internationale Umweltbewegung in den letzten Dezennien. All diese Phänomene machen das Säugetier Wal zu einem boundary animal, einem "Grenzgänger" zwischen Tier- und Menschenwelt, der sich nicht in die üblichen Kategorien einordnen lässt, mit denen sich bisher die Umweltgeschichte der Tiere behilft.
Einer der für die politische Zeitgeschichte bis 1990 bedeutendsten Staaten, die Sowjetunion, wird seit Kurzem als Feld der Umweltgeschichte entdeckt. Alla Bolotova betritt mit einem sinnig gewählten und differenziert bearbeiteten Thema Neuland. Sie nimmt die Symbolfigur des 'Geologen' in den Blick, der in der Konstruktion sowjetischer Staatsideologie neben dem 'Kosmonauten' oder dem 'Piloten' eine zentrale Stelle einnahm. Die Autorin stellt den in Zeitungen und Literatur verbreiteten, offiziellen Bilder des Geologen-Daseins die aus Interviews und autobiografischen Texten gewonnenen Selbstbeschreibungen von Geologen gegenüber, die in den 1960ern an der Feldforschung in der sibirischen Taiga teilnahmen.
Mit einer um einige Werturteile der älteren Geschichtswissenschaft reduzierten Modernisierungstheorie nähert sich Arnd Bauerkämper dem Weg der beiden deutschen Staaten nach 1945 in die industrialisierte Landwirtschaft. Mit dieser vergleichenden Perspektive gelingen ihm eine Reihe kritischer, für die Umweltgeschichte wichtiger Befunde. Aus der Problemlage der Nachkriegszeit heraus schlugen beide Staaten einen radikalen Kurs der Agrarmodernisierung ein. Während in Westdeutschland das Ideal des Familienbetriebs überdauerte, mit der Realität jedoch immer schwerer abzugleichen war, folgte man in der DDR dem Ideal großer agroindustrieller Genossenschaften. Jeweils begann man mit einer linearen, unkritischen Fortschrittsutopie, welche die fundamentalen Umweltprobleme der industriellen Landwirtschaft lange Zeit überdeckte. Auch wenn die westdeutsche Agrarpolitik einen weniger radikalen Modernisierungskurs einschlug, die Bauern ihre Eigentumsrechte behielten und nur durch eingeschränkte Marktkräfte zur Erhöhung der Produktivität gezwungen wurden, erhält deren ökologische Bilanz lediglich dann eine positive Note, wenn man als Referenzpunkt die DDR wählt.
Als das japanische Fischerboot Lucky Dragon im Frühjahr 1954 unfreiwillig in das Umfeld eines amerikanischen Atomwaffentests auf dem Bikini-Atoll geriet und seine Besatzung hochgradig verstrahlt wurde, kam das einem Weckruf für die westlichen Gesellschaften gleich: Holger Nehring beschreibt die Reaktionen auf die zunehmende Aufrüstung beider Seiten des Kalten Krieges in den 1950er- und 1960er-Jahren und beabsichtigt dabei eine Revision des bisherigen Paradigmas der "Apokalypse-Blindheit" dieser Jahre. In vergleichender Perspektive geht er den Argumentationsmustern und Schreckensbildern nach, mit denen die erwachenden Protestbewegungen in Westdeutschland und Großbritannien sich gegen die militärische Nutzung der Atomkraft stellten. Unterschiede zwischen den britischen und westdeutschen Atomgegnern kann Nehring auf die unterschiedliche Erfahrung im Weltkrieg und verschiedene Grade der Bedrohung zurückführen.
Im letzten Aufsatz des Bandes verbindet Frank Uekötter einen Literaturbericht mit einer Reihe von Thesen, die zum Teil kontrovers, aber in jedem Fall sehr erhellend sein dürften. Er wendet sich dabei gegen einige Narrative der Disziplin, wie jener geraden Entwicklungslinie von romantischer Landschaftsauffassung über den 'Wald-Ethnologen' Riehl, zum 'Anti-Modernisten' Rudorff und zum 'Denkmalschützer' Conwentz. Auch die Selbststilisierung der Naturschützer des Kaiserreichs als 'Einzelkämpfer' in einer weitgehend unkritischen Gesellschaft wird zu Recht hinterfragt. Uekötters Diagnose, die historische Naturschutzbewegung hätte von Historikern immer eindeutige Sympathiebekundungen zu erwarten gehabt, kann eher für die amerikanische Geschichtsforschung als für die deutsche gelten. Vielmehr wurde Letztere oft pauschal unter dem Stichwort "Antimodernismus" abgehandelt oder für ihre mangelnde ökologische Einsicht kritisiert. Bezeichnenderweise haben sich die Vorzeichen der amerikanischen und der deutschen Naturschutzgeschichte in letzter Zeit umgekehrt. Während in den USA eine 'versteckte' Geschichte der Exklusion entdeckt wird, versucht man hier zu Lande die simple Einordnung des Naturschutzes als ablehnend-antimodernen Reflex auf die Moderne zu hinterfragen.
Zusammenfassend stellen sich einige Erkenntnisse zu gemeinsamen Tendenzen der jüngeren Umweltgeschichte ein: Sie gibt sich global orientiert und interdisziplinär; sie ist kulturwissenschaftlichen Fragestellungen aufgeschlossen und stellt Fragen zu Wirkkräften, die in der Umweltgeschichte bisher nicht unbedingt prominent waren, etwa zur Religion wie der hier nicht ausführlich besprochene Beitrag des neuseeländischen Historikers James Beattie. Die einzelnen Aufsätze tragen nur einen Teil dieser Charakterzüge. Dennoch zeichnet die regionale und thematische Auswahl des Herausgebers ein buntes und treffendes, wenn auch keineswegs vollständiges Bild einer Umweltgeschichte, die dabei ist, ihre Grenzen auszuloten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Martin Knoll: Umwelt, Herrschaft, Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd in Kurbayern im 18. Jahrhundert, St. Katharinen 2004; vgl. hierzu die Rezension von Winfried Freitag, in: sehepunkte 4 (2004) Nr. 11; URL: http://www.sehepunkte.de/2004/11/6116.html
[2] Vgl. Karl Jacoby: Crimes against Nature: Squatters, Poachers, Thieves, and the Hidden History of American Conservation, Berkeley u. a. 2001.
Frank Uekötter (ed.): The Frontiers of Environmental history - Umweltgeschichte in der Erweiterung (= Historical Social Research. Special Issue; Vol. 29 (2004), Nr. 3), Köln: Center for Historical Social Research 2004, 240 S., ISSN 0172-6404
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.