Mit dem "Inventory of Archaic and Classical Poleis" liegt nunmehr die monumentale Zielpublikation der in den Jahren 1993-2003 am 'Copenhagen Polis Centre' (CPC) durchgeführten Forschungen vor. Die ungemein fruchtbaren und aus aktuellen Debatten über die griechische Polis nicht mehr wegzudenkenden Impulse, die in diesem Zeitraum von der von Mogens Herman Hansen geleiteten Arbeitsgruppe ausgegangen sind, haben sich - u. a. aufgrund der breiten internationalen Vernetzung des CPC - mittlerweile in einer größeren Anzahl von Kolloquien und Publikationen niedergeschlagen. Während die sieben Bände "Acts of the CPC" (1993-2004) und die ebenfalls sieben Bände "Papers from the CPC" (1994-2004) - flankiert durch weitere Untersuchungen - Einzelaspekte im Kontext der weiteren Beschäftigung mit der griechischen Polis diskutiert sowie den jeweils aktuellen Forschungsstand reflektiert haben, liegt mit dem "Inventory" jetzt auch die Summe der regen Forschungstätigkeit des letzten Jahrzehnts vor.
Das vom CPC koordinierte und von einem internationalen Autorenteam erarbeitete "Inventory", das in seinem Hauptteil (155-1250) insgesamt 1035 Einzelartikel zu allen bekannten Poleis der archaischen und klassischen Zeit bietet, wirkt nur auf den ersten Blick wie ein reines Lexikon zu den griechischen Stadtstaaten. Von Beginn an verfolgte das CPC Fragen nach den wesentlichen Kriterien, die eine Polis definieren (vgl. 17, 31), und ging den Schwierigkeiten nach, die sich aus unreflektierten Vermengungen der Terminologie in den zeitgenössischen Quellen und der dahinter stehenden Konzepte mit modernen Vorstellungen ergeben. Und so präsentiert auch das "Inventory" nicht lediglich eine unkritisch zusammengestellte Liste von Ortsnamen oder Stadtstaaten, sondern bietet eine Aufstellung, die das Ergebnis langjähriger Reflexionen darstellt und auf klaren Kriterien basiert. Diese Kriterien werden in der umfangreichen Einleitung, die zugleich die wichtigsten Ergebnisse der Forschungen am CPC noch einmal zusammenfassend vorstellt, präsentiert und ausführlich diskutiert (3-153). Die Herausgeber betonen dort mit großer Emphase die Stellung der Polis als "a key concept in Greek political thought" (12) und die Bedeutung für Zeitgenossen "to live in 'poleis' rather than in some other form of political community" (14).
Die Diskussion der für die Aufnahme einer Siedlung in das "Inventory" relevanten Kriterien beginnt naturgemäß mit der zeitlichen und räumlichen Eingrenzung. Im Hinblick auf den erstgenannten Fragenkomplex betonen die Herausgeber stärker die Brüche als die Kontinuitäten zwischen der Mykenischen Zeit und der Phase der Polisbildung, vermeiden aber andererseits aufgrund der Fülle ungeklärter und kontrovers diskutierter Forschungsprobleme auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Phänomen 'Polis' in den homerischen Epen (18) - eine zwar konsequente, sicherlich aber nicht ganz unproblematische Entscheidung. Den Fokus des Werkes bildet jedenfalls der Zeitraum ca. 650-323 v. Chr. (30), wobei die Herausgeber aber zu Recht betonen, dass die griechische Polis natürlich auch nach dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis in die Spätantike fortexistiert hat. Allerdings ist das sehr geraffte Bild, das vom 'Niedergang' der Polis in der Spätantike gezeichnet wird, doch sehr schematisch und zum Teil unrichtig, vor allem aber nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung (20, u. a. mit falschen Daten für die Herrschaft Justinians).
Zentral für die Herausgeber und eine wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung des "Inventory" ist die These, dass Unabhängigkeit ('autonomía') einer Siedlungsgemeinschaft keineswegs eine Bedingung für ihren Status als 'Polis' zu sein brauchte - zumindest nicht gemessen an antiken Konzepten (vgl. etwa 19). Diese wichtige, durch zahlreiche Belege fundierte und in der Forschung bereits intensiv diskutierte These (die freilich eine ganz exakte Definition von Autonomie voraussetzt) wird im Verlauf der Einleitung wiederholt diskutiert, insbesondere im Zusammenhang mit einem weiteren wichtigen Resultat der Forschungen des CPC, dass nämlich die Konzepte, die sich mit modernen Begriffen wie 'city-state' oder 'Stadtstaat' verbinden, nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen mit antiken Vorstellungen von 'Polis'. So könne etwa in antiken Quellen eine Siedlung als 'Polis' bezeichnet werden, obwohl man sie heutzutage nicht als 'city-state' klassifizieren würde. Der Grund dafür sei darin zu sehen, dass in den modernen Konzepten weiterhin das Kriterium der Autonomie als wesentliches konstituierendes Element mitschwinge. Insofern seien die Begriffe 'Polis' und 'city-state' / 'Stadtstaat' streng voneinander zu trennen (23).
Die Kriterien für die Aufnahme einer 'Polis' in das "Inventory" gehen dementsprechend auch von den antiken Zeugnissen aus: Ein Ort müsse entweder in einer zeitgenössischen Quelle als 'Polis' erscheinen oder aber in einer Weise agieren, die in archaischer und klassischer Zeit charakteristisch war für eine Polis (27).
In den folgenden Kapiteln der Einleitung werden zunächst zentrale Fragen diskutiert, die sich im Zusammenhang mit Begriff und Konzepten von 'Polis' ergeben. Es geht dabei u. a. um die Frage, ob der Terminus 'Polis' in der Antike möglicherweise ähnlich inflationär und damit zunehmend konturlos gebraucht worden sei wie heute beispielsweise das Wort 'Demokratie' (die Herausgeber sehen dies nicht so: "The word 'polis' did not become a slogan", 29), ferner um die Frage nach der Konsistenz und Konstanz des antiken Konzepts von Polis über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg (auch hier sind die Herausgeber optimistisch) sowie um das Bedeutungsspektrum von 'Polis', u. a. auch in Konfrontation mit anderen, sich teilweise mit diesem Begriff überschneidenden Termini.
Das Spektrum der Aspekte, die zur Gewinnung und Darlegung eines möglichst konsistenten Konzepts von 'Polis' für den anschließenden 'Lexikon'-Teil diskutiert werden, reicht von Fragen nach der Anzahl griechischer Poleis (und dem damit verbundenen Problem der Dunkelziffer, 53 f.) über die Behandlung der Proxenie (98-102), des Synoikismos (115-119), der Stasis als wichtigem Merkmal einer Polis (124-129), den Aspekt des Kultes (130-134), die Ummauerung (135-137), Münzprägung (144-149) usw. bis hin zur Diskussion des Verhältnisses von Polis und Chora (74-79) sowie zu einem kurzen Überblick über die "Types of Constitution" (80-86). Die strikte Forderung der Autoren, Konzepte von 'Polis' von der Voraussetzung eines autonomen Status zu trennen, führt dabei u. a. zur Neudefinition der Kategorie der 'abhängigen' Polis, für die dann 15 verschiedene Typen benannt werden (87 ff.).
Leider nur kurz gestreift wird das Problem der "Civic Subdivisions" (95-97); insbesondere die komplexe Diskussion über Ursprung und Entwicklung der Phylen wird nur angedeutet. Die Autoren plädieren dabei für eine Art Mittelweg zwischen der erstmals von Denis Roussel und Félix Bourriot vertretenen These, wonach die Konstituierung von Phylen im Rahmen der Entwicklung der Polis zu sehen sei [1], sowie älteren Ansichten, die von der Möglichkeit ihrer Entstehung in der Vor-Polis-Zeit ausgehen, und sprechen sich für eine differenziertere Herangehensweise an das Problem aus: "Some of the civic subdivisions seem to have predated the 'polis' or, rather, they were converted into a system of civic subdivisions in connection with the emergence of the 'polis'. Others, however, were deliberately created by the 'polis' and those that were earlier than the 'polis' were transformed, sometimes beyond recognition" (96 f.). Zentrale ältere und neuere Arbeiten, in denen diese Fragen behandelt werden, sind dabei bedauerlicherweise nicht berücksichtigt worden. [2]
Der Hauptteil des Buches, das eigentliche 'Lexikon', präsentiert die aufgrund der in der Einleitung erarbeiteten Kriterien identifizierbaren Poleis nach Großregionen geordnet (zu denen jeweils eine Einleitung vorgeschaltet ist) in alphabetischer Reihenfolge. Dabei dürfte klar sein, dass die im CPC verfolgten, stark auf den Polischarakter zentrierten Fragen die Einzelartikel strukturiert haben. Wer daher etwa eine umfassende Geschichte Athens oder Spartas erwartet, wird im "Inventory" nicht fündig werden, da der Fokus anders ausgerichtet ist. Andererseits bietet das Werk aber gerade zu den zahllosen wenig bekannten und kaum erschlossenen Poleis des "Dritten Griechenland" eine stupende Fülle an Material und demonstriert damit eindrücklich, welch immenser Arbeitsaufwand hinter dem "Inventory" steht.
Die Stärken des "Inventory" sind zweifellos diese Menge empirischen Materials (das über 27 Indizes im Anhang erschließbar ist, 1251-1396), das für lange Zeit die Basis für weitere Untersuchungen darstellen wird, sowie die Benennung klarer Kriterien zur Eingrenzung einer 'Polis'. Ob man mit diesem eher mechanischen Verfahren allerdings dem Gesamtphänomen vollends gerecht wird, wird sich erst noch erweisen müssen.
Anmerkungen:
[1] D. Roussel: Tribu et cité, Paris 1976; F. Bourriot: Recherches sur la nature du génos, Paris / Lille 1976.
[2] Wie sehr sich die Diskussion seit einigen Jahren im Fluss befindet und wie unterschiedlich dabei die Positionen sind, geht u. a. hervor aus: K.-W. Welwei: Ursprünge genossenschaftlicher Organisationsformen in der archaischen Polis, in: Saeculum 39 (1988), 12-23, Nachdruck in: M. Meier (Hg.): Karl-Wilhelm Welwei. Polis und Arché. Kleine Schriften zu Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt, Stuttgart 2000, 10-21; P. Funke: Stamm und Polis. Überlegungen zur Entstehung der griechischen Staatenwelt in den "Dunklen Jahrhunderten", in: J. Bleicken (Hg.): Colloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Alfred Heuss, Kallmünz 1993, 29-48; C. Trümpy: Untersuchungen zu den altgriechischen Monatsnamen und Monatsfolgen, Heidelberg 1997. Vgl. auch Th. Schneider: Félix Bourriots "Recherches sur la nature du génos" und Denis Roussels "Tribu et Cité" in der althistorischen Forschung der Jahre 1977-1989, in: Boreas 14 / 15 (1991 / 1992), 15-31.
Mogens Herman Hansen / Thomas Heine Nielsen (eds.): An Inventory of Archaic and Classical Poleis. An Investigation Conducted by The Copenhagen Polis Centre for the Danish National Research Foundation, Oxford: Oxford University Press 2004, XV + 1396 S., ISBN 978-0-19-814099-3, GBP 135,00
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