Ludwig Bechstein (1801-1860) war Apotheker, Bibliothekar, Archivar, Sammler und nicht zuletzt ein sehr produktiver Schriftsteller im thüringischen Meiningen. Vor allem mit dem "Deutschen Märchenbuch" hatte er großen Erfolg: Im 19. Jahrhundert wurde seine Märchen- und Sagensammlung öfter aufgelegt als die berühmten Grimm'schen Märchen. Burghart Schmidt, unter Hexenforschern bekannt als einer der Initiatoren des norddeutschen Hexenforschungskreises, untersucht in seiner rasch erschienenen, sorgfältig redigierten Habilitationsschrift mit den "Hexengeschichten" von 1854 eine Reihe unbekannterer Erzählungen aus Bechsteins Feder.
Im deutschsprachigen Raum erschienen insbesondere nach der Veröffentlichung von Wilhelm Gottlieb Soldans "Geschichte der Hexenprocesse" (1843) vielerorts Lokalgeschichten der Hexenprozesse. Erstmals wurden die Originalquellen der lokalen Prozesse aus Archiven gehoben und zu Erzählungen verarbeitet. Mit der Untersuchung über Bechstein liegt jetzt eine detaillierte Fallstudie über einen besonders interessanten Schriftsteller vor. Denn wie Schmidt in seiner detaillierten kritischen Studie zeigen kann, rezipierte Bechstein die frühneuzeitlichen Hexenprozesse sehr quellennah und zog zahlreiche Archivalien, wie etwa Flugschriften, aus dem Kontext der bislang nur lückenhaft erforschten Thüringer Verfolgungen heran.
Ausgangspunkt von Schmidts Untersuchung ist die Feststellung, dass Bechstein "dichterische Freiheit und positivistisches Verfahren" (122) kombiniert habe. Analysiert werden die Herangehensweise und die Intentionen Bechsteins. An der Verschränkung von Quellenmaterial mit mittlerweile wiederum historischer literarischer Ausgestaltung orientiert Schmidt seine gesamte Untersuchung. Er geht davon aus, dass Bechstein und seine Hexengeschichten exemplarisch für eine Zeit der Ambivalenzen waren - in literaturwissenschaftlichen Termini: Nachromantik, Biedermeier oder Junges Deutschland. Er charakterisiert diese Epoche als gesellschaftliche Umbruchphase, in der sich die ständische Gesellschaftsordnung allmählich auflöste und - auf anderer Ebene betrachtet - sich in der Literatur aufklärerische Intentionen in moralisierenden Sentenzen niederschlugen. Märchen, historische Romane, aber auch andere Genres wie Zähmungsgeschichten thematisierten, meist unterschwellig, ein "Bestreben, Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit zurückzugewinnen" (32). Die Literarisierung des Hexenthemas war zur Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt durch romantische Faszination gerade auch von den Schattenseiten der Natur des Menschen; an den Erzählungen Bechsteins, der selbst nur etwa drei Generationen nach den letzten Verfolgungen in seiner Gegend lebte, wird aber zugleich bereits eine "ausgrenzende Zuschreibung" (170), eine Verurteilung dessen deutlich, was jetzt als Aberglauben angeprangert wurde.
An den sechs "Hexengeschichten", so Schmidt, zeigten sich Bechsteins Zugang zur Thematik und sein Stil: das intensive Zurückgreifen auf Quellenzitate und -paraphrasen bis hin zur Mundart in der direkten Rede, eine heiter-schauerliche Stimmung, subtiler Humor, das Interesse am Allgemein-Menschlichen und unterschwellige "humanistisch-didaktische Intentionen" (194). Nicht alle Erzählungen spielen in Thüringen, wohl aber diejenige, der Schmidt besonderes Augenmerk zukommen lässt: "Das Kornseil und die drei Hunde" geht auf einen Meininger Fall von 1611 zurück. Zu den Hexengeschichten edierte Schmidt im vorliegenden Band ergänzend einige ausgewählte Quellen (mit vereinzelten Abbildungen aus Akten, vor allem als Transkriptionen), um die Überlieferung der Literarisierung gegenüberzustellen. Dies gelingt sehr plastisch, da die Formen der Literarisierung (Zitat, Paraphrase, andere Rückgriffe) auf einfachem, aber effektivem Weg gekennzeichnet werden, nämlich durch Kursivsetzen, Unterstreichungen und einige wenige Fußnoten.
Die Transdiziplinarität der Studie entspricht der Realität der frühen Hexenforschung / -fiktion im 19. Jahrhundert. Es ist daher sehr begrüßenswert, dass heute, beeinflusst vom linguistic turn in der Geschichtswissenschaft, weniger Berührungsängste mit dem Genre der historischen Erzählung (als Quelle) bestehen. Entsprechend verortet sich Schmidt locker mit Begriffen wie Systemtheorie, new historicism und Mentalitätsgeschichte; er versteht die Literaturwissenschaft als eine Kulturwissenschaft.
Abgerundet wird das Buch durch ein gut sechzigseitiges Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Orts- und Personenregister. Schmidts Studie ist detailreich angelegt, klar aufgebaut und zeugt von beeindruckend umfassender Kenntnis der Forschungslandschaft, nicht nur der Hexenforschung im engeren Sinn, sondern dem Thema entsprechend weit über die Fachgrenzen hinaus. Wer nach einem Thema für die Abschlussarbeit sucht, dem sei empfohlen, die einleitenden Kapitel zu lesen mit einem besonderen Augenmerk auf die Forschungsdesiderate, auf die in den Fußnoten verschiedentlich hingewiesen wird.
Burghart Schmidt: Ludwig Bechstein und die literarische Rezeption frühneuzeitlicher Hexenverfolgung im 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Arbeitskreises für historische Hexen- und Kriminalitätsgeschichte in Norddeutschland; Bd. 4), Hamburg: Dobu 2004, 412 S., ISBN 978-3-934632-09-7, EUR 39,90
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