Diese bis zu seinem Tode von Hans-Joachim Torke betreute Doktorarbeit ist einem Thema gewidmet, das in der Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, wie nicht zuletzt das relativ knappe Literaturverzeichnis erkennen lässt. Der Berliner Historiker Torsten Wehrhahn hat sich somit eines Desiderats und eines zentralen Kapitels der neuesten ukrainischen Geschichte und der ukrainisch-polnischen Beziehungen angenomen. Bis in die Gegenwart ist das besondere Verhältnis von West- und Ostukraine ein beliebter Gegenstand öffentlicher Debatten über die Ukraine, und in der Diskussion über die so genannte Rückkehr der Ukraine nach Europa wird nicht selten auf Vorteile der ukrainisch-polnischen Nachbarschaft verwiesen. Zudem hat die Geschichte der kurzlebigen Westukrainischen Volksrepublik sowohl für das moderne ukrainische nation-building wie auch für die Entwicklung der polnisch-ukrainischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt, wie der Verfasser in seiner Einleitung zu Recht hervorhebt.
Wehrhahns Arbeit ist seit gut 40 Jahren die erste monografische Untersuchung zur Geschichte der ZUNR (Zachidno-Ukrajins'ka Narodna Respublika), weshalb er sich zwar auf vorliegende Studien zu Einzelaspekten der ukrainisch-polnischen Auseinandersetzung um Ostgalizien bzw. die Westukraine stützen konnte, im Übrigen aber auf Archivrecherchen und andere Quellen verwiesen blieb. So basiert seine Darstellung auf der Auswertung der einschlägigen ukrainischen, polnischen und österreichischen Archive, der zeitgenössischen Presse, publizierter Quellensammlungen sowie der Erinnerungen und Publikationen der damals handelnden Akteure - sehr zum Vorteil seiner faktendichten Darstellung. Diese ist in fünf größere Abschnitt, eine ausführliche Zusammenfassung und einen Anhang gegliedert.
Nach dem einleitenden Kapitel, in dem Forschungsstand, Quellen, methodisches Vorgehen, aber auch die Situation Ostgaliziens vor 1914 skizziert werden, ist in Abschnitt II die Zuspitzung des ukrainisch-polnischen Antagonismus während des Ersten Weltkriegs Gegenstand der Untersuchung. Hier stehen die Entwicklungen des Jahres 1918 mit der Unabhängigkeitserklärung der UNR (Ukrainische Volksrepublik, Ukrajins'ka Narodna Respublika), dem Frieden von Brest-Litovsk und der Auflösung des Habsburger Vielvölkerreiches als Vorlauf und Auftakt der offenen Auseinandersetzungen zwischen Ukrainern und Polen im Zentrum, denen der dritte Abschnitt gewidmet ist. Dem folgen die Ereignisse bis zum Rigaer Vorfrieden im Oktober 1920, bevor im letzten Abschnitt die Regelung der Ostgalizienfrage und die damit verbundene Festlegung der polnischen Ostgrenze durch die Entente im März 1923 im Lichte der Vorstellungen, Pläne und Optionen der konfligierenden Parteien und Akteure beleuchtet werden.
Dass weder Ukrainer noch Polen geschlossene Blöcke bildeten, sondern untereinander ungeachtet punktuell demonstrierter nationaler Solidarität unterschiedliche Positionen einnahmen, ist vielleicht die zunächst wichtigste Erkenntnis, die man aus Wehrhahns Untersuchung gewinnt. Die ZUNR war kein nationales Projekt der ostgalizischen Ukrainer. Eine Lösung im Rahmen eines reorganisierten Habsburgerreiches schien bis Mitte 1918 die aus vielen Gründen näher liegende Option. Wie sich später zeigen sollte, war auch die Vereinigung mit der Ostukraine, der UNR Vynnyčenkos und Petljuras, eher eine Notlösung, eine taktische Maßnahme angesichts des wenig erfolgreichen Krieges mit Polen. Die in Österreich und dessen politischer Kultur längst verwurzelten, zudem konservativen westukrainischen Politiker hatten wenig Gemeinsamkeiten mit ihren Landsleuten im Direktorium der UNR, deren organisatorische Mängel und nationale Entwicklungsdefizite unübersehbar zu sein schienen. Hier trafen zwei unterschiedliche Welten aufeinander, die auch keine gemeinsame politisch-strategische Linie finden konnten, weil die Ostukrainer in ihren Kämpfen mit den Bol'ševiki und der "Freiwilligenarmee" ihre Hoffnungen auf ein Bündnis mit Polen setzten, dem erklärten Gegner der ZUNR; die Allianz mit Polen aber konnte nur durch den Verzicht auf Ostgalizien erreicht werden, ein Opfer, zu dem nur wenige Westukrainer bereit waren, da - wie Wehrhahn hervorhebt - kein durch gemeinsame Interessen und Wahrnehmungen getragenes übergreifendes Nationalstaatskonzept existierte, für dessen Realisierung man sich auf taktische Konzessionen hätte einlassen können.
Dass angesichts der den Ostgalizienkonflikt bestimmenden komplexen regionalen, inneren und äußeren Faktoren das Ziel einer westukrainischen Eigenstaatlichkeit eine Schimäre bleiben musste, wird in Wehrhahns Untersuchung ausführlich dargestellt. Er stützt sich dabei auf ein umfangreiches Quellenkorpus, die Auswertung von Presse, zeitgenössischen Berichten und Memoiren und kann so Abläufe, Einstellungen, Pläne, Alternativen und Motive identifizieren sowie deren Relevanz und Wirkmächtigkeit verdeutlichen. Es war vor allem den sich 1918 massiv verschärfenden polnisch-ukrainischen Auseinandersetzungen sowie dem rapiden Zerfall der Machtstrukturen der Habsburger geschuldet, dass beide Seiten einen bewaffneten Kampf für unausweichlich hielten und mäßigende Stimmen kein Gehör mehr fanden. Nachdem die Kämpfe ausgebrochen waren, scheiterten Vermittlungsversuche vor allem auch deshalb, weil man auf beiden Seiten der Front nur dann Verhandlungsbereitschaft zeigte, wenn es die militärische Lage erforderte. Dabei verkannten die Ukrainer von Anbeginn, dass auf polnischer Seite nicht nur die stärkeren Bataillone, sondern auch die Mehrheit der Teilnehmer der Pariser Friedenskonferenz standen. Das Scheitern war daher nur logisch.
Eine falsche Wahrnehmung der Absichten und Möglichkeiten der Entente wie des polnischen Gegners bestimmte auch die Entwicklung des Ostgalizienproblems bis zu dessen Entscheidung im März 1923. Wie Wehrhahn deutlich macht, waren selbst in dieser Phase Kompromissbereitschaft und Entgegenkommen auf ukrainischer Seite eher die Ausnahme bzw. in vielen Fällen auch nur taktisch bedingt. Auch nach dem Frieden von Riga, als die Ostgalizienfrage de facto zu Gunsten Polens entschieden war, änderte sich daran nichts, vielmehr kam es sogar zu einer weiteren Verschärfung der Konfrontation. Dies war vor allem auch das Ergebnis einer Politik, wie sie von der ukrainischen Exilregierung in Wien geführt wurde, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berief, dabei aber übersah, dass dieses Leitprinzip der Entente nicht in jedem Fall auch das Recht auf Nationalstaatlichkeit begründete. Darüber hinaus versperrten sich die Ostgalizier wider alle Erfahrung der Einsicht, dass die Botschafterkonferenz ihre Entscheidungen auch nach Opportunitätskriterien traf. Die Gewährung weitgehender Autonomierechte entsprach dagegen eher Pariser Vorstellungen, wurde aber nicht nur von der ukrainischen Exilregierung unter Petruševyč abgelehnt. Mutatis mutandis galt dies auch für die polnische Regierung, die angesichts der tiefen Kluft zwischen ukrainischer und polnischer Bevölkerung in Ostgalizien und einer nationalistisch erregten polnischen Öffentlichkeit glaubte, den Ukrainern kein Entgegenkommen zeigen zu können.
Wehrhahn hat mit seinem Buch eine sehr differenziert argumentierende Untersuchung vorgelegt und eine wichtige Lücke in der Historiografie zur Ukraine geschlossen. Zu monieren ist lediglich das Fehlen eines Registers.
Torsten Wehrhahn: Die Westukrainische Volksrepublik. Zu den polnisch-ukrainischen Beziehungen und dem Problem der ukrainischen Staatlichkeit in den Jahren 1918 bis 1923, Berlin: Weißensee-Verlag 2005, 400 S., ISBN 978-3-89998-045-5, EUR 38,00
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