Viele europäische Fürsten des 15. bis 18. Jahrhunderts regierten nicht nur ein Land, sondern mehrere, die sich unter Umständen sehr voneinander unterschieden. Viele Territorien hatten den Monarchen mit anderen Ländern gemeinsam, sonst aber wenig oder nichts. Diese schlichte Tatsache, vor allem aber die daraus erwachsenden Folgen für Herrschaftsverständnis und -ausübung, blieben oft unbeachtet; das Ideal des 19. Jahrhunderts, der einheitlich organisierte Nationalstaat, verstellte den Blick. Seit rund zwanzig Jahren gibt es Versuche, diese Tatsache auf den Begriff zu bringen: Helmut G. Koenigsberger sprach vom composite state, John H. Elliott von der composite monarchy. [1] In Nordeuropa ist der Begriff Konglomeratreich oder -staat geläufig. [2] In Deutschland hat Franz Bosbach den Begriff der Mehrfachherrschaft eingeführt; er stellt ihn im vorliegenden Band noch einmal auf konzise Weise vor, erläutert die Faktoren und Bedingungen für Mehrfachherrschaft (19-34).
Das prominenteste Beispiel einer composite monarchy in der deutschen Geschichte ist der brandenburg-preußische Länderverband. Die Prominenz gründet sich nicht nur auf die Vielzahl an Territorien und deren weite geographische Streuung im 17./18. Jahrhundert, sondern auch auf den bis 1866 andauernden und beträchtlichen Zugewinn an Territorium sowie die eminente Bedeutung Preußens für die neuere deutsche Geschichte. Traditionell herrschte in der Interpretation auch hier das Ideal des (preußisch-kleindeutschen) Nationalstaats vor - in der Regel wurde mit der Elle des "Einheitsstaates" (Ludwig Tümpel, 1915) gemessen, den der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm begründet habe. Territoriale Besonderheiten konnten nur wenig Beachtung finden. Bereits vor gut 20 Jahren aber wurde die Auffassung in Frage gestellt, die Hohenzollern hätten "ohne viel Rücksicht auf die territorialen Besonderheiten und Traditionen" agiert [3]; stattdessen charakterisierte man, bezogen auf die Erwerbungen des 18./19. Jahrhunderts, Preußen als "differenzierten Einheitsstaat". [4] Der Begriff selber mag nicht glücklich gewählt gewesen sein, zeigt aber den historiographischen Wandel an, in dem die "traditionalen Elemente und Strukturen [...] des alten Preußen" [5] wesentlich mehr Beachtung finden als früher.
Der hier zu besprechende Sammelband mit Beiträgen einer Tagung des Jahres 2003 hat die brandenburgische composite monarchy des 17. Jahrhunderts zum Thema. Den Hohenzollern waren durch Erbgang Kleve-Mark (1609/1614) und das Herzogtum Preußen (1618) zugefallen; mit diesen neuen Territorien handelte man sich massive Probleme ein (jülich-klevischer Erbfolgestreit bis 1666; polnische Oberhoheit über Preußen), einschließlich der Tatsache, diese Gebiete im Dreißigjährigen Krieg nicht schützen zu können. Als Kurfürst Friedrich Wilhelm 1640 an die Regierung kam, waren Machtmittel und Ansehen der Dynastie - also des einigenden Bandes zwischen den diversen Territorien - auf einem Tiefpunkt; mit Geschick und viel Glück gelang es dem Großen Kurfürsten, die disparaten Teile der Hohenzollernmonarchie zwischen Kleve und Königsberg zusammenzuhalten, ja, sogar neue Territorien hinzuzugewinnen. In seiner Regierungszeit wurden die Grundlagen für die preußische Königserhebung von 1701 gelegt.
Dieser historiographische und sachgeschichtliche Hintergrund bildet den Rahmen des vorliegenden Bandes. In den Beiträgen werden die Beziehungen zwischen den einzelnen Territorien und ihrem Haupt, dem Kurfürsten, untersucht. Das Selbstverständnis des letzteren als Mehrfachherrscher stellt Ernst Opgenoorth ebenso kenntnisreich wie durchdacht vor. Dann finden die Perspektiven der Territorien und jeweiligen Landstände Beachtung. Namentlich der Beitrag von Esther-Beate Körber über die preußischen Stände lässt mit einem Akzent auf der politischen Sprache die ständischen Verhaltensmuster sichtbar werden. Mit dem Hof, den Statthaltern und dem stehenden Heer werden Einrichtungen beleuchtet, bei denen man vermuten kann, dass sie zum Zusammenhalt unter den Einzelterritorien sowie zwischen Einzelterritorium und Herrscher beigetragen haben. Die Herausgeber Michael Kaiser und Michael Rohrschneider weisen selber in ihrem einführenden Beitrag explizit auf Desiderate hin (14f.), die hier nicht aufgearbeitet werden konnten, und auch in verschiedenen Beiträgen werden die Lücken benannt; gleichwohl lässt sich bereits mit diesem Band ein besseres Verständnis des brandenburgischen Länderverbandes unter dem Großen Kurfürsten gewinnen.
Danach ist als erstes feststellbar: Für Friedrich Wilhelm waren seine Alleinkompetenz in der Außenpolitik sowie die Aufstellung des stehenden Heeres und dessen Finanzierung das "Minimalprogramm" (Opgenoorth, 44), das er ggf. auch gegen ständischen Widerstand durchsetzte, so in Kleve-Mark und Preußen. Nicht nur aus Körbers Aufsatz geht hervor, wie der Kurfürst seine Prärogative in den genannten Bereichen durchsetzte, sondern auch aus Michael Kaisers Ausführungen über den Gegenentwurf einer ständischen Union, welche die klevischen Stände mit den jülich-bergischen Ständen verband und die vielleicht Anschluss an die niederländische Republik hätte gewinnen können.
Im Zusammenhang damit ist zweitens erkennbar, dass es Veränderungen der Administration und Verfasstheit in den einzelnen Territorien meist nur auf den obersten Ebenen gab, während die lokalen Verhältnisse unangetastet blieben, weil sie für das genannte Minimalprogramm unerheblich waren. Das zeigt Johannes Burkardt am Beispiel von Minden und Ravensberg, ferner Ursula Löffler am Beispiel Magdeburgs, wobei sie die entsprechende Entwicklung des 1680 an Brandenburg gefallenen Herzogtums bis in die Regierungszeit des Soldatenkönigs beobachtet.
Wie wichtig drittens der Hof, die Statthalter und das Heer für den Zusammenhalt der brandenburgischen composite monarchy waren, muss noch offen bleiben. Was die Armee angeht, so macht Jürgen Luh plausibel, dass nicht wie bisher ohne weiteres von einer integrierenden Wirkung des stehenden Heeres ausgegangen werden kann. Allerdings wäre der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Integration noch inhaltlich zu füllen, und die Herausgeber weisen zu Recht darauf hin, dass die schiere Existenz der kurfürstlichen Truppen "möglichen zentrifugalen Tendenzen" (18) vorbeugte. Die integrative Wirkung des Hofes lässt sich aufgrund der Forschungslage zur Zeit nicht bestimmen, resümiert Jeroen Duindam (196). Den Statthaltern als Stellvertretern des Kurfürsten kam eine Schlüsselstellung für die Beziehung zwischen Land und Herrscher zu. Michael Rohrschneider analysiert hier ihre außenpolitische Bedeutung. Erkennbar ist, dass die hochadligen Statthalter als Diplomaten und Vermittler von Nachrichten aller Art wichtig waren; sie trugen wesentlich zu einem territorienübergreifenden Nachrichtennetzwerk bei, das beim Kurfürsten sein Zentrum hatte; insofern leisteten sie einen Beitrag für den Zusammenhalt des Länderkonglomerats.
Ergänzend zu diesen Ergebnissen schildert Maria-Elisabeth Brunert, warum Friedrich Wilhelm so viel Wert auf den Erwerb Pommerns legte und warum er dabei partiell scheiterte. Frank Göse weist eindrücklich auf die innere Differenzierung der kurmärkischen Teillandschaften hin. Er konstatiert ein "gestuftes Gemeinschaftsbewußtsein" (76) der dortigen Stände: Sowohl Konkurrenz der Teilstände als auch Solidarität in Opposition zum Kurfürsten kamen vor. Ein Bereich, in dem diese Solidarität bestand, war der der Konfession, wie überhaupt der calvinistische Kurfürst mit seiner gezielten Förderung des Reformiertentums oft auf ständisch-lutherische Opposition stieß. Dieses Thema wäre in vergleichender Perspektive noch Gegenstand einer weiteren Untersuchung, will man sich nicht mit der These zufrieden geben, der Calvinismus sei vor allem ein verbindendes Element der brandenburgischen Mehrfachherrschaft gewesen. Es ist zumindest vorstellbar, dass die Protektion der Reformierten mehr Schwierigkeiten schuf, als die Loyalität der kleinen calvinistischen Minderheiten aufwiegen konnte.
Fazit: ein gelungener und nützlicher Band, für das Verständnis der brandenburgischen Geschichte wie für das Phänomen Mehrfachherrschaft / composite monarchy im Allgemeinen.
Anmerkungen:
[1] Helmut G. Koenigsberger: Dominium regale or dominium politicum et regale. Monarchies and parliaments in Early modern Europe, in: Helmut G. Koenigsberger (Hg.), Politicians and virtuosi. Essays in Early Modern History, London 1986, 1-25, besonders ab 12; John H. Elliott: A Europe of Composite Monarchies, in: Past & Present 137 (1992), 48-71.
[2] S. z.B. Harald Gustafsson: Conglomerates or unitary states? Integration processes in early modern Denmark-Norway and Sweden, in: Thomas Fröschl (Hg.), Föderationsmodelle und Unionsstrukturen. Über Staatenverbindungen in der frühen Neuzeit vom 15. bis 18. Jahrhundert, Wien / München 1994, 45-62.
[3] Peter Baumgart: Vorwort, in: Peter Baumgart (Hg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat, Köln / Wien 1984, IX-XI, hier IX.
[4] Oswald Hauser: Grundsätze preußischer Integrationspolitik, in: ebd., 475-486, hier 476.
[5] Wolfgang Neugebauer: Das alte Preussen. Aspekte der neuesten Forschung, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), 463-482, hier 471.
Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hgg.): Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640-1688) (= Forschungen zur Brandenburgischen und PreuĂischen Geschichte. Neue Folge; Beiheft 7), Berlin: Duncker & Humblot 2005, 245 S., ISBN 978-3-428-11790-1, EUR 74,00
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